Virtuose Vorsicht

Die Ruhrfestspiele erholen sich unter dem Intendanten Frank Hoffmann von der Castorf-Krise und feiern wieder Zuschauerrekorde. Doch wozu?

Hoffmann wirbt mit vielen Uraufführungen – von längst durchgesetzten Dramatikern. Sein Wagemut bleibt vorsichtig

VON HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

Ein Mann holt die persönliche Habe seiner verstorbenen Frau, einer Mathematikerin, von der Uni ab. Wider Erwarten wird er eingeschlossen – und so begann die erste Vorstellung der Ruhrfestspiele in diesem Jahr mit mathematischen Vorlesungen. Der Hörsaal entpuppt sich plötzlich als Zeitschleuse, die ein Spiel der Assoziationen in Gang setzt. Vier Handlungsstränge verzahnen sich in „A Disappearing Number“, der neuen Produktion von Simon McBurney und dem Théâtre de Complicité, auf faszinierende Weise miteinander. Da wird von der Reise der Wissenschaftlerin erzählt, die sich auf die Spuren des Mathematikers Ramanujan in Indien begab, während dieser im frühen 20. Jahrhundert vom Subkontinent nach England reiste. Ein Wissenschaftler hält einen Vortrag über Ramanujan, zugleich schließt ein englischer Geschäftsmann ein Callcenter in Indien. Globalisierung, Wissenschaft und private Geschichte(n) werden so zu einer untrennbaren und auch noch unterhaltsamen Einheit – eine passende Message zum Auftakt eines Gewerkschaftsfestivals.

Dass die Ruhrfestspiele in Recklinghausen Anfang Mai mit einer solchen Produktion eröffneten, ist nicht selbstverständlich. Nach Frank Castorfs einjähriger Intendanz im Jahr 2004, die mit einem Defizit und gewaltigen Zuschauereinbußen endete, wurde Frank Hoffmann als Krisenmanager geholt. Er setzte auf wiedererkennbare Programmsäulen mit zirzensischer Ausrichtung: Dichternamen wurden als Leitmotto ausgegeben, Stars wie Isabelle Huppert oder Kevin Spacey präsentiert, dazu Kabarett, Zirkus, Lesungen ins Angebot genommen. Mit Erfolg beim Publikum, das willig strömte. Mit Schelte von der Kritik, die Hoffmann der Biederkeit zieh.

Nun, im dritten Jahr seiner Intendanz deuten das Théâtre de Complicité sowie 13 Ur- und Erstaufführungen bei insgesamt 22 Produktionen auf eine Erweiterung der engen programmatischen Grenzen. Zudem scheinen sich die Ruhrfestspiele von einer Abspielstelle des Festivalzirkus zum Produktionsfestival zu mausern. Das klingt vielversprechend, lohnt aber einen genaueren Blick.

Nimmt man die Uraufführung von George Taboris neuem autobiografischem Stück „Gesegnete Mahlzeit“ als symptomatisch, entsteht ein bescheideneres Bild. In drei Stationen wird ein Leben erzählt: Auf der Bühne des Bürgerhauses Süd erwacht Veit Schubert als siecher Schriftsteller Dirty Don aus todesähnlichem Schlaf – „jede Nacht eine Sterbeprobe“ – und singt zwischen Morgentee, dem Busen seine Freundin Lady Milena und der ersten Zigarette ein Hosianna auf den Alltag. Als zweites Bild folgt der Mittagstisch, an dem sich eine Verhandlung mit einem Filmmogul über einen Drehbuchvertrag entwickelt, eine Anspielung auf Taboris Arbeit in Hollywood. Regisseur Hermann Beil, der anstelle des 93-jährigen Tabori die Proben leitete, macht daraus einen veritablen Slapstick. Dirty Dons Leben vollendet sich schließlich in Venedig, wenn er die Prostituierte Amanda Lollypop schwängert, stirbt und von ihr prompt wiedergeboren wird. So virtuos das gespielt sein mag, letztlich fehlt dem Stück das Ingeniöse früherer Werke; vor allem aber geht ihm die innovative Kraft ab.

Wenn die Ruhrfestspiele also mit Uraufführungen von Tabori, Achternbusch, Mankell, Stoppard oder Koltès werben, dann hat man es hier weitgehend mit durchgesetzten Dramatikern zu tun. Das gilt übrigens genauso für das „Junge Theater“, das mit Igor Bauersimas „Norway.Today“ oder Nick Hornbys „High Fidelity“ erfolgreiche Klassiker seines Genres aufführt. Bezeichnend schließlich auch, dass der Bereich des Fringe-Theaters mit über 100 Vorstellungen zum eigenen Festival aufgewertet wurde, in dem Straßentheater genauso Platz hat wie eine Anne Tismer oder das Tanztheater Cocoondance. Hoffmanns Wagemut bleibt also vorsichtig.

Wie vorsichtig, das konnte man seiner „Torquato Tasso“- Inszenierung entnehmen. Trotz Besetzung der Hauptrolle mit dem guten Wolfram Koch kommt allenfalls ein modernistisch aufgebrezelter Goethe light heraus. Es wird gewitzelt, gekalauert; man planscht ausgiebig im Hofteich; doch allen Geschmacksverstärkern zum Trotz, die Frage nach der Abhängigkeit von Kunst und Politik, für dessen Bearbeitung sich dieses Stück so sehr anbietet, bleibt unbeantwortet. Hoffmanns Programmpolitik ist zwar nicht so vordergründig wie seine Inszenierung, doch sie bleibt eine am doppelten Sicherungsseil. Das hat ihm im vergangenen Jahr zwar den bisher noch nie erreichten Besucherrekord von 70.000 Zuschauern eingetragen sowie die Verlängerung seines Vertrages bis 2009. Um als Festivalleiter aber auch ästhetisch in eigenes Profil aufzubauen, genügt das aber kaum.

Ruhrfestspiele, noch bis zum 17. Juni, Infos unter www.ruhrfestspiele.de oder Tel. (0 23 61) 92 18-0