Nun bete ich denn mal …!

Ich würde mich ja gerne von meiner säkularen Trostlosigkeit lösen. Bloß wie? Ein Versuch über den Wunsch, zu glauben

VON JAN FEDDERSEN

Meine Kinderfibel gefiel mir gar nicht. Im Gegenteil: Sie machte mir Angst. Der Religionsunterricht war dem Ermessen der Eltern anheimgestellt, einen Zwang zur Einweisung im christlichen Glauben gab es nicht. Die Eltern waren in dieser Frage komplett desinteressiert. Eine Haltung, die mich nicht eben anspornte, nicht einmal im Geiste einer Opposition. Was verboten war, hätte gefallen können. Doch nichts war verboten, aber auch nichts ausdrücklich erwünscht. In der Fibel gab es Bilder. Isaak, Magdalena, Jesus natürlich, auch Abraham und Maria. An ihnen wirkte nichts wie eine frohe Botschaft, alle trugen saure Mienen der Trostlosigkeit. An Stunden der Erläuterung kann ich mich nicht erinnern. Hamburg war schon in den mittleren Sechzigern ein gottarmes Pflaster.

Seit einigen Jahren sagt alle Welt, Religion sei im Kommen, die Menschen glaubten wieder an Höheres, an Schwingungen, die sie außerhalb ihrer Existenz als solcher erfassten und leiteten. Da ergreift den Nichtgläubigen der Neid. Was haben die, was fehlt mir? Kirchen kenne ich natürlich. Meistens protestantische, im Norden gelegen. Schöne Gotteshäuser, die gewiss gut zur Muße zu nutzen wären, zur Pause vom Gewimmel, das einen umgibt und das man ja auch gern hat. Leider haben diese evangelischen Häuser nie geöffnet, wenn man sie gerade braucht. Sonntags stehen sie offen, zum Gottesdienst. Aber dann darf man nicht zuhören, dann muss man es.

Kirchentage, evangelische, sind da eher nach meinem Geschmack. Vier Tage Hully-Gully an einem Ort, viel Glockengeläut, Hallelujagesänge, mehr oder weniger aufgeräumte Menschen, deren größter Vorzug es oft ist, dass sie nicht so neobürgerlich smart aussehen wie in den urbanen Zirkeln. Auf Kirchentagen glaubt man noch ernsthaft an so etwas wie Authentizität. An das Menschliche, an Echtes, Wahres, Gutes – und somit ja auch an Verderbnis, Sünde, Not und Pein. Nur eines wollte mir nie gelingen: das Beten. Das inbrünstige Aufgehen im Ritus, in der Gewissheit, einer werde schon richten, was so alles aus dem Ruder läuft.

Der letzte Ort, als es mir so richtig spirituell ums Gemüt wurde, war das Kloster von Niederaltaich zur Weihnachtsmesse. Ein Haus kaderhaften Geistes; dort wurden, noch zu realsozialistischen Zeiten, die Priester ausgebildet, die im Osten Europas zum Dienst antreten mochten. Der Gesang fiel weich in die Ohren der vielhundert Menschen, und kurz vor Mitternacht sagte der Abt in seiner Predigt, dass der Herr alles im Blick habe und richten werde, so man glaube und hoffe und liebe. Plötzlich aber bekam sein Ton eine gewisse Schärfe. Polen, sagt er, müsse aus der Hand der Gottlosen befreit werden, Solidarność brauche Solidarität, die Kinder fürchteten dort Hunger und Durst, nur der Alleinseligmachende könne helfen, doch bitte auch alle anderen sollten mitwirken.

Aus meinem schüchternen Versuch, einen Gottesdienst als Quelle von Höherem zu nehmen, sozusagen in einen außerverstandlichen Groove zu gelangen, war ein gescheitertes Experiment geworden. Was geht denn die Kirchen Weltliches an? Wie man heute weiß, ist der polnische Sozialismus untergegangen, und ein quasi religiös-nationalistisches Regime auf Erden hat fast alles in Besitz genommen. Mehr noch: Rechts der Oder mögen manche jesuanische Mutmaßungen aus der Bibel ziehen, sie ins Leben übertragen und dies für menschlich halten – in Wahrheit ist der polnische Klerus der lebendige Beweis dafür, dass mit Religion kein Staat zu machen ist, der in irgendeiner Weise freiheitlich gestrickt sein könnte. Aus dem „Liebe deinen Nächsten“ ist unter der Hand, schon zu sozialistischen Zeiten, ein „Hasse alles, was sich dir nicht fügen will“ geworden.

Ich würde gerne beten können. Aller Furcht vor Vereinnahmung zum Trotz: Wenn man Literatur gern kaufen möchte, muss ja auch nicht gleich der ganze Buchladen mitgeliefert werden.

Neulich in Rom. Niemand guckt. Der Freund, der Reisebegleiter, ein Lutheraner durch und durch mit Sinn für katholische Riten, fragt noch, ob er Tickets besorgen dürfe für die Messe auf dem Petersplatz zum Palmsonntag, mit Papst-Garantie. Na, wenn schon, dann gleich das ganze römische Paket. So finden wir uns ein, im Vatikanstaat, an diesem letzten Sonntag im März. Viele tausend Menschen haben sich eingefunden, ein schöner Ort, das dann doch. Wir finden Stühle, ausgerechnet, in einer Rompilgergruppe aus dem ländlichen Polen. Nicht unübel, diese Männer und Frauen, sich zuwinkend, fotografierend, am Ziel ihrer Wünsche, auch wenn Karol Wojtyła nicht mehr auf Erden weilt. Sie tragen Trachten, und allesamt haben sie Sonnenbrillen auf den Nasen. Über allem schwebt ein Hauch von Sonnencreme. Die Stühle sind schon deshalb zu loben, weil wir welche bekommen haben, besser als Stehplätze an den Arkaden, die den Petersplatz zu den Seiten begrenzen. Aber wie unbequem! Kirchenbänke sind dagegen die reinste Wohltat.

Man ruckelt hin und schuckelt her, und ich als ehemaliger Protestant glaube, nun müsse Ruhe einkehren, da doch die Prozession beginnt und Männer in Versace-artigen Gewändern Palmwedel nach vorne tragen. Die Lautsprecherboxen scheppern störend. Katholiken scheint das nicht groß zu irritieren, sie tuscheln und rascheln während all der Ansprachen, die der Papst mit seiner Predigt und seinem Segen beschließt.

Nach einer Stunde merke ich erstmals, dass mir diese Chose nichts sagt. Jesus mag für alles Mögliche gestorben sein – hoffentlich auch für das Recht auf lebendige, weniger trutschige Messen. Ich bin der Einzige, der den Platz zu den Wandelgängen hin verlässt, und schäme mich ein wenig. Die anderen sollen doch nicht denken, dass sie Absurdem anhängen. Kann man mit Katholiken überhaupt in ein Gespräch kommen, das gottesdienstliche Geschehen erörternd, ja gewissermaßen rezensierend? Ist es erlaubt, einfach zu sagen: Das soll die Botschaft der Liebe gewesen sein vom Statthalter des Herrn in der einzigen, echten Welt? Darf man sagen: Das war eine Antibotschaft, ein gewiss aufwendig koordiniertes, doch entsetzlich langweiliges Schauspiel, weit unter dem Inszenierungsniveau von Provinzkomödien? Oder ist einer wie ich total verroht, dringend der Mission bedürftig, wenn doch alles fein sendet, er aber keinen Empfänger im Herzen in sich trägt? Fehlt es mir an einer Antenne?

Bitte jetzt keine Unterstellung, das sei jetzt papstfeindlich gemeint. Soll er doch! Mekka oder Jerusalem oder irgendetwas Evangelisches vom gleichen Kaliber stelle ich mir nicht aufregender vor, von Gospel-Séancen in den US-amerikanischen Südstaaten mit Sängerinnen und Sängern, die den Namen Aretha Franklin nicht nur von Ferne kennen, einmal abgesehen.

Allein in der Altstadt, suche ich eine weitere Möglichkeit, meine Spiritualität zu entdecken. Der Weg ist das Ziel, und er führt in eine Kirche nah der alten Synagoge am Tiber. Ich setze mich in diese kühle Stille, nicht in die erste Bankreihe, das wäre unfein, auch übertrieben. Versenke mich in eine Körperhaltung, die ich schon bei meinen polnischen Messefreunden vom Petersplatz gesehen habe. Abgestützt durch die Knie, in leicht demütiger Haltung den Kopf gesenkt, das eine Bein – bloß welches? Gibt es Regeln? – nach hinten gestreckt und denke: Nun bete ich denn mal. Wofür? Die Liebe? Dass der Mann, jüngst kennengelernt, sich erbarmt und meiner gewahr wird? Dass meine Schwester gut durch ihre Schwangerschaft kommt? Wäre ein Gebet für mehr Geld auch okay? Oder ist das Hoffart? Ehe ich mich entscheiden kann, geht die mächtige Tür auf, zwei Nonnen schreiten herein in ihren Trachten. Mit einem Mann, der sich auch plötzlich eingefunden hat, sprechen sie, soweit meine Italienischkenntnisse mir zu verstehen erlauben, über die Rosen im Garten, die noch ein wenig Schnitt brauchen. Abgang des Mannes – und die beiden Nonnen, deren einziger Bräutigam gewiss der Herr sein möge, vertiefen sich in ein Gespräch über … Erdbeermarmelade! Ob die bulgarischen Früchte taugten für eine leckere Fruchtsoße oder nicht doch besser zu warten sei auf heimische Ernten.

So hat das doch keinen Zweck! Irgendwie hat die katholische Kirche keinen Sinn für Strenge. Ich erinnere mich an einen Gottesdienst in einer Kirche auf der Nordseeinsel Pellworm. Niemals hätte der Pastor zugelassen (geschweige denn die Gemeinde sich erlaubt), beim Kirchgang über Heringssalate oder doch lieber Krabbenpulerei zu beratschlagen. Offenkundig ist bei den Katholen alles in Ordnung. Das macht mich misstrauisch. Dürfen die mit all ihrer Gottesfürchtigkeit alles – Hauptsache, die Fassade stimmt? Und was können die Nonnen dafür, dass ihr bestimmt nötiges Geplauder mich in der Suche nach Stille stört?

Will sagen: Kommt es nicht, wenn überhaupt, auf diesen Sinn an – dass ein Gottesdienst nicht nur einfach abgewickelt, sondern, gut evangelisch, erarbeitet sein möchte? Und selbst wer das bestreitet und auf das Recht verweist, ein Gottesdienst sei für die Gottesdienstbesucher da, nicht für jene, die ihn nicht als ihnen zugehörig erkennen: Was sagt das über die Mission der Kirche als solche? Möchte sie zwingen, wenn man nicht pariert? Oder verzichten Kirchen, egal welcher Konfession, nur deshalb auf Zwang und Furcht, weil sie es nicht mehr können? Ist es nicht skandalös, wenn der Papst wie jüngst in Lateinamerika verkündet, die Kirche habe sich dort ohne Gewalt durchgesetzt? Ist das nicht fast schon vorsätzlicher Spott über jene, die unter diesem Klerus litten und ihr Leben ließen?

Oder leitet einen nur Neid auf die Gewissheiten der Kirche? Auf die Sicherheit, mit der ihre Gläubigen Pfingsten als Fest nehmen, nicht nur als verlängertes Wochenende? Oder gar Missgunst? Beseelte haben ja etwas, was einem fehlen könnte. So etwas wie Gewissheit zu Lebzeiten. Wie auch immer: Man sieht den katholischen Klerus in Gewändern, die (Heinrich Heine kritisierte das schon vor 150 Jahren) sehr opulent sind, und die Evangelen wirken gegen sie wie (selbstverständlich sehr appetitliche!) Hausmannskost, die sich am Tisch daneben schon optisch gegen einen raffinierten Festschmaus behaupten muss. Jüdisches und Muslimisches fällt im kernchristlichen Europa ohnehin nur an den Katzentischen auf – aber auch sie wirken in ihrem Äußeren gespenstisch, zumindest gestrig.

Rätselhaft bleibt vorläufig, wie das Beten geht. Oder ob das Hoffen – Ernst Bloch hat das doch fein im Sinne glühendster jüdischer Nachfolgereligionsmystik nach marxistischem Gusto aufgeschrieben – die beste Erbschaft des Christentums bleibt. Die Liebe zu finden geht ja auch ohne Religion, auch wenn Kirchentrauung hübscher aussieht auf den Erinnerungsfotos als eine Prozession zum Standesamt.

Wahr ist andererseits, dass ein Welttreffen der Jugend wie vor zwei Jahren in Köln mir Bilder geliefert hat, die Angst machen. Menschen, die nicht einfach für sich sein können und feiern – sondern die in ihrer Christlichkeit einen Anspruch auf Durchsetzung ihrer weltlichen Wirklichkeit vor sich hertragen und den Unwissenden, also auch mir, nur noch die Richtung vorgeben – mit entschiedener Wegstrecke. Bei Lichte besehen, bin ich dann doch daran interessiert, dass es nicht so kommt. Alles, was freundlich sein kann an unserem Leben, ist doch wohl gegen Kirchens durchgeboxt worden, all die Freiheit, die einen überhaupt befähigt, ohne obskurantistische Behelligung durch Propaganda auszukommen.

Weshalb soll sich einer mit polnischen Rompilgern gemein machen, besser: sie nicht mit Misstrauen beäugen? Vermutlich sind sie die Gleichen, die ihre Wäsche von der Leine holen, wenn Zigeuner in die Stadt kommen. Menschen, die nicht bei Verstand sind, wenn sie hetzen im Namen Christi gegen Fremde und Fremdes. Wie in Polen. Wie meist überall. Der Sinn des Lebens mag in einem Gott liegen. Am besten, der weltliche Mensch macht sich zu seinem eigenen Göttlichen.

Beten ist übrigens ganz einfach. Vor das Bett hocken, Hände falten, wenn ich richtig geguckt habe neulich in Brandenburg in einer alten Dorfkirche bei einem Mann, der ein Bild seines Kindes in Händen hielt, und wünschen, was das Zeug hält. Und daran glauben, dass ein gutes Leben kein leidendes sein muss. Sondern eines, das am besten auf Erden selbst in die Hand genommen wird. Opferliebe macht doch gemütskrank!

JAN FEDDERSEN, 49, ist taz.mag-Redakteur