Die WG, die alles verzeiht

Sechs demente Senioren leben in Moabit in einer Wohngemeinschaft. Betreut werden sie rund um die Uhr von Pflegern. Für die Bewohner sind sie abwechselnd Eltern, Kinder und Geliebte. Ein Besuch

VON THOMAS JOERDENS

Die kleine, grauhaarige Dame rutscht in braunen Puschen flink übers Linoleum und schimpft mit sich. „Schlafmütze“, murmelt Hella D. vor sich hin. Sie fragt nach einer „ersten Zigarette“, lässt sich Feuer geben und huscht zurück in ihr Zimmer. Die Vormittagssonne scheint längst durch die Fenster, und Hella D., die 87-Jährige, ist schon seit Stunden auf den Beinen. Doch sie hat es vergessen.

Genauso wenig erinnert sich die Seniorin daran, dass sie heute bereits einige „erste Zigaretten“ geraucht hat und seit über einem Jahr in dieser Wohnung lebt. „Ich komme gerne hier herunter. Keiner ist frech. Dafür wird dämlich gequatscht. Und das Essen schmeckt. Ich wohne weiter oben. Aber fragen Sie mich nicht, in welchem Stock“, plappert die ehemalige Fleischverkäuferin mit Berliner Schnauze drauflos. Dass in einem fremden Raum ihr Sofa steht, wundert sie keine Sekunde. Die demente Frau lebt in einer Welt ohne Erinnerung.

Hella D. ist eine von sechs Bewohnern in Deutschlands einst erster Wohngemeinschaft für Demenzkranke, die vor elf Jahren in Moabit eröffnet wurde. Diese Wohnform für alte Menschen machte Schule. Heute existieren in Deutschland schätzungsweise 500 solcher WGs, allein in Berlin sind es knapp 200, in Brandenburg 100, ebenso wie in Nordrhein-Westfalen.

Drei Männer und drei Frauen zwischen 61 und 91 Jahre teilen sich die fast 190 Quadratmeter große, barrierefreie Wohnung im ersten Stock eines grauen Neubaublocks im Kiez an der Lehrter Straße. Jeder der Senioren bewohnt ein eigenes Zimmer, das mit persönlichen Gegenständen eingerichtet ist. Im großen Gemeinschaftsraum mit offener Küche brabbeln Wellensittiche. An der Wand steht eine rustikale dunkelbraune Schrankwand, davor einige Sessel. In einem sitzt Walter Z. und summt die alten Klavierschlager mit, die aus der Stereoanlage dudeln. Am großen Esstisch nimmt gegen zehn UhrLisa B. Platz. Die schlanke Frau trägt einen orangefarbenen Morgenmantel und will frühstücken.

Leben wie die Studis

Die Alten-WG funktioniert ähnlich zwanglos wie eine studentische Zweck-WG. Die Bewohner stehen auf und gehen schlafen, wann sie wollen. Die Möbel sind zusammengewürfelt, aber gemütlich. Man isst gemeinsam Mittag, teilt Küche und Miete. Der Unterschied: Die Dementen haben Dauergäste, die sie pflegen, bekochen, mit ihnen reden, singen, spielen, spazieren gehen. „Die Bewohner sollen sich hier aufgehoben fühlen. Auch wenn sie oft nicht wissen, wo sie sich befinden“, sagt Michael Damman. Der gelernte Krankenpfleger arbeitet seit 1999 in der WG und teilt sich tagsüber den Job mit einem Kollegen. Nachts passt eine Pflegekraft auf.

Im Gegensatz zu gesunden Senioren in Altenheimen benötigen Demente eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Bei den Betroffenen zerbröselt langsam das Gedächtnis. So können sich Kurzzeitgedächtnis, Denkvermögen, Sprache, Orientierung, Motorik, Persönlichkeitsstruktur auflösen. In Deutschland sollen allein eine Million Menschen an der an Alzheimer-Krankheit leiden, die häufig die Demenz auslöst. Die Erkrankten, meist Menschen über 65 Jahre, erkennen nicht die vertrautesten Personen und vergessen erworbene Fähigkeiten. Sie verlieren den Kontakt zur realen Welt und bewegen sich häufig in ihrer Kindheit.

Die Pfleger versuchen, den alten Menschen ein so angenehmes Leben wie möglich zu machen. Dafür sind die private Umgebung und der großzügige Personaleinsatz gute Voraussetzungen, weil sie eine individuelle Betreuung und einen flexiblen Tagesablauf ermöglichen. „Wir kommen ja quasi nur zu Besuch und sind ständig mit den Bewohnern zusammen.“ Dies könnten selbst Pflegeheime mit speziellen Dementenabteilungen oft nicht bieten. Und normale Altenheime schon gar nicht.

Ein Zimmer in einer Demenz-WG kostet weniger als in einer spezialisierten Pflegeeinrichtung, aber mehr als in herkömmlichen Heimen. Voraussetzung ist die Pflegestufe III. Zur Pflege und Betreuung kommt der Mietanteil, sodass die monatlichen Kosten beispielsweise in Berlin knapp 3.400 Euro erreichen können. Die Differenz zahlen die Bewohner aus ihrem Privatvermögen oder anteilig die Kinder. Für den Rest kommt gegebenenfalls der Sozialträger auf.

Die Berliner WG entstand durch private Initiative. Angehörige taten sich Mitte der 90er-Jahre zusammen und schoben das Projekt mit Unterstützung des Vereins „Freunde alter Menschen“ an. Dieser tritt als Hauptmieter der Wohnung auf und schließt jeweils Untermietverträge ab. Die Verwandten der Dementen engagierten eine Hauspflegestation für die Betreuung, sagt Klaus Pawletko. Der WG-Initiator und Geschäftsführer des Vereins hat in Berlin ein halbes Dutzend Demenz-WGs auf den Weg gebracht. Den Bedarf erkannten auch die Pflegedienste, die heute das Gros der Alzheimer-WGs betreiben.

In der Moabiter WG geht es auf Mittag zu. Auf dem Speiseplan stehen Senfeier mit Kartoffeln. Michael Dammann muss noch einkaufen und fordert Walter Z. pantomimisch auf, sich die Schuhe zu binden. Der 1921 geborene Herr, der als Rentner noch Kunst studierte, versteht keine Worte mehr und bringt nur noch zusammenhanglosen Wortsalat über die Lippen. Aber er ist noch agil und geht gerne spazieren.

Keiner mag die Hausarbeit

Im Haushalt helfen die Bewohner nach Lust und Laune mit. „Die WG ist momentan eher ein Hotel mit Bedienungscharakter“, sagt Michael Dammann. Hella D. erklärt sich bereit, Kartoffeln zu schälen. „Normalerweise mach ich das nicht. Hab schließlich mein ganzes Leben lang gearbeitet“, meint sie. Dammann nimmt’s locker: Pfleger sollten Fantasie und Einfühlungsvermögen mitbringen und chaosresistent sein. Man müsse sich ständig auf neue Situationen einstellen, wenn die alten Leuten die Betreuer abwechselnd für ihre Eltern, Kinder, Geliebten halten oder plötzlich verschwinden. „Da müssen wir dann hinterher und begegnen den Ausreißern ‚zufällig‘ auf der Straße.“

„Im Moment sind wir voll belegt und haben fitte Bewohner“, so Dammann. Die meisten können sich noch alleine bewegen. Das ändert sich im Krankheitsverlauf: Die Dementen werden pflegeintensiver. Wer in die WG zieht, bleibt dort in der Regel, bis er stirbt. Alle zwei bis drei Jahre ändert sich die Besetzung.

In Moabit ist nach dem Mittagessen auch das Quark-Dessert mit Früchten verputzt. Einige Bewohner brauchen jetzt ein Nickerchen. Andere gehen vor zur Straße und setzen sich neben den Kiosk. Für Hella D. ist die Uhr ebenfalls weitergegangen. Sie verlangt eine nächste – „erste“ – Zigarette.

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