Sammelband Filmwissenschaft: Film als Erziehungsmaßnahme

Unterhaltsam ist er nicht, und ästhetisch macht er auch nicht viel her - der Industriefilm. Erstmals gibt eine Anthologie einen Überblick über das vernachlässigte Genre.

Wie funktioniert denn das? Der Schulungsfilm erklärt es uns. Bild: dpa

Im Jahr 1914 pries der Regisseur George L. Cox das lange vor allem als Jahrmarktsattraktion betrachtete neue Medium Film als ideales Vehikel für die Darstellung der Arbeit von Maschine und Mensch. Der Film könne "Hühnerbrutmaschinen" zeigen, schwärmt er, und "Anthrazit-Minen", er eigne sich für "'Sicherheit kommt zuerst'-Schulungen" und "Initiativen für bessere Straßen bis hin zur Hochsee-Navigation". Die Apparate- und bald auch Industriekunst Film also als prädestiniertes Medium zur Abbildung, Durchsetzung, Bewerbung von Praktiken und Produkten der Industrie. Nachzulesen ist diese frühe Hymne in dem von Vinzenz Hediger und Patrick Vonderau herausgegebenen Band "Filmische Mittel, industrielle Zwecke", der sich mit dem Genre Industriefilm befasst, und zwar aus theoretischer wie historischer, aus allgemeiner wie aus spezieller Perspektive.

So lange die Geschichte des Industriefilms währt, so wenig hat sich die Filmwissenschaft bislang für sie interessiert. Das liegt in der Geschichte der relativ jungen akademischen Disziplin begründet. In der Konzentration auf Autoren und bedeutende Werke bekam sie die nicht für die Kunst und um ihrer selbst willen, sondern für den Gebrauch und Nutzen in filmfremden Kontexten gedachten und gemachten Filme lange kaum in den Blick. Als Einzelstück ist der Normalfall des Industriefilms denn auch von wenig ästhetischem Interesse. Nicht der Regisseur, nicht die Formen stehen im Zentrum des Forscherinteresses, sondern, darin sind der Pionierarbeit Thomas Elsaessers die meisten Beiträger zu folgen bereit, die "drei A": Auftraggeber, Anlass und Adressat. Die Herausgeber Hediger und Vonderau fügen in der Funktionsbeschreibung des Industriefilms noch die "drei R" hinzu: "record" (Aufzeichnungs- und Gedächtnisfunktion), "rhetoric" (Manipulation von Mitarbeitern und Öffentlichkeit) und "rationalization" (Optimierung von Abläufen).

Der Industriefilm ist, heißt das, interessant etwa als Seismograph von Umwälzungen der Managementtheorie, wie Ramón Reichert an einer Serie von Industrial-Management-Filmen der Firma McGraw-Hill demonstriert. Mit Zeichentrick und säuberlichen Organigrammen werden dort in den Fünfzigerjahren neue Strategien des Zeigens entwickelt, die hierarchische Verhältnisse zur naturgemäßen Ordnung der Dinge stilisieren. Um Industriefilme handelt es sich aber auch bei den brav didaktischen Einübungen in innerbetriebliche Gleichberechtigung, die die US-Telefonfirma Bell in den Siebzigern und Achtzigern zur Umsetzung unter Lyndon B. Johnson erlassener progressiver Gesetze produzieren ließ.

Im spannendsten Aufsatz widmet sich Petr Szczepanik dem geradezu gesamtkunstwerkhaften Sozial- und Industrieexperiment der tschechischen Schuhfirma Bata, die Arbeit, Wohnen, Freizeit und Betriebsgesellschaft zu einer schönen neuen Lebenswelt zusammenschloss. Binnen weniger Jahrzehnte wuchs in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht nur das nach den neuesten tayloristischen, fordistischen und fayolistischen Prinzipien geführte Unternehmen selbst, sondern auch die Stadt Zlín, in der es angesiedelt war. Die Firma war in jeder technischen (und sozialtechnischen) Hinsicht immer an vorderster Front. Sie installierte eine riesige Telefonzentrale, baute ins Zentrum der vorwiegend von Mitarbeitern bewohnten Stadt ein 2.500 Zuschauer fassendes Riesenkino (seinerzeit das größte Mitteleuropas), gründete ein Werksradio und entwickelte schon in den Dreißigern Pläne für ein Betriebsfernsehen.

Im firmeneigenen Filmstudio entstanden mit Bata-Werbung durchsetzte Wochenschauen, die in der ganzen Tschechoslowakei mit großem Erfolg gezeigt wurden. Sie standen aber - dies die eigentliche Innovation - auch den Kunden in den Schuhgeschäften während der Pediküre in eigens dafür entwickelten Kabinen auf Knopfdruck zur Verfügung. Der Komplex Bata und auch Szczepaniks anregender, vieles eher am Rande streifender Aufsatz sprengen ersichtlich den Rahmen des Themas "Industriefilm" und damit des Sammelbandes. Zwar sind in den letzten Jahren gleich zwei Dokumentarfilme über Bata entstanden, der faszinierende "Bata-ville" von Nina Pope und Karen Guthrie und "Bienvenue à Bataville" von François Caillat. Eine interdisziplinäre Monografie zu diesem einzigartigen Unternehmen aber bleibt eines der großen Desiderate industriegeschichtlicher Forschung.

Vinzenz Hediger, Patrick Vonderau: "Filmische Mittel, industrielle Zwecke. Das Werk des Industriefilms." Vorwerk 8, Berlin 2007, 350 Seiten, 19,90 Euro

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