NPD Marzahn: Der Ernstfall und die Demokraten

Ein Jahr NPD in den Berliner Bezirksparlamenten: In Marzahn-Hellersdorf ringen die Politiker mit den neuen Abgeordneten. Aber die Rechten lernen dazu.

NPDler marschieren in Berlin. Bild: dpa

Felix Frenzel war leicht zu erkennen. Er klebte am 8. September 2006 Plakate für die SPD, als zwei Männer in Springerstiefeln ihn anpöbelten. Frenzel, 23, wusste, dass er in Gefahr war. Er war im Bild über die örtliche rechtsextreme Szene, als einer der wenigen innerhalb seiner kleinen SPD-Fraktion im Bezirksparlament von Marzahn-Hellersdorf. Er rannte weg, sie holten ihn ein, er stürzte.

Schwere Kopfverletzungen, verursacht durch mehrfache Tritte gegen den Schädel, diagnostizierten später Ärzte in einem Berliner Krankenhaus. Klaus Wowereit, der Regierende Bürgermeister, eilte an Frenzels Krankenbett, der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil rief via Bild alle Wahlberechtigten auf: "Stimmen Sie für eine der demokratischen Parteien." Es war Wahlkampf in Berlin.

Wahlergebnis: Bei der Berliner Wahl am 17. September 2006 haben NPD und "Republikaner" nicht den Einzug ins Abgeordnetenhaus geschafft. Sie sind aber seither in fünf der zwölf Bezirksparlamente vertreten. Ihr bestes kommunales Ergebnis erzielte die NPD mit 6,4 Prozent im östlichen Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf.

Parlamentsstatistik: Im ersten Jahr im Bezirksparlament stellten die drei NPD-Verordneten 13 Anträge, 3 mündliche Anfragen, 3 Große Anfragen sowie 17 Kleine Anfragen. Sie stellten sowohl symbolische als auch sachbezogene Anträge und Anfragen. Sie boykottierten eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus und forderten eine Feierstunde für die Opfer des Stalinismus. Auf der Ebene der Sachpolitik interessierten sie sich u. a. für Straßenumbenennungen, Müllaufkommen und Hubschrauberlandeplätze. Mehrere Anfragen thematisierten die angebliche Verschwendung öffentlicher Gelder sowie die Kriminalität von Migranten.

NPD-Entwicklung: Nach Angaben des Verfassungsschutzes (Stand: Mai 2007) hat der Berliner Landesverband der NPD seinen im Jahr 2005 begonnenen Aufschwung fortgesetzt und sich zum zentralen rechtsextremistischen Akteur in der Stadt entwickelt. Bundesweit hatte die NPD 2006 etwa 7.000 Mitglieder, in Berlin etwa 210 (2005: 175). Für das Jahr 2007, so der Verfassungsschutz, erhofft sich der Landesverband eine Verdoppelung der Mitgliederzahl. Der gegenwärtige Aufschwung wird jedoch nach Einschätzung des Verfassungsschutzes durch eine dünne Personaldecke sowie das brüchige "Volksfront"-Bündnis begrenzt.

Marzahn-Hellersdorf entstand 2001 durch die Fusion zweier Berliner Stadtbezirke. Dem Bezirk haftet das Klischee der ostdeutschen Platte an, mit den entsprechenden Schwierigkeiten - Verwahrlosung, Rechtsradikalismus, Kriminalität. Doch das stimmt nur zum Teil. Auf den 61,8 Quadratkilometern finden sich neben DDR-Plattenbauten auch Villenviertel, Parks und Gewerbegebiete. Die Verwaltung hat seit der Wende auf die demografischen Entwicklungen mit Rückbau und Mitbestimmung der Einwohner gesetzt.

Von den 250.000 Einwohnern sind 18.000 Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion. Die Arbeitslosenquote liegt mit 17,1 Prozent unter dem Berliner Durchschnitt von 19,9 Prozent.

Bei der Wahl zur Bezirksverordnetenversammlung 2006 stimmten 38,2 Prozent der WählerInnen für die PDS, 25 für die SPD, 13 für die CDU, Grüne und FDP kamen auf 5,1 bzw. 5 Prozent, die WASG auf 4,8 Prozent. Die NPD kam auf 6,4 Prozent, sie erhielt erstmals drei BVV-Sitze.

Am 8. September 2007, jährt sich der Überfall. Es kann spekuliert werden, ob die Dinge anders gelaufen wären in Marzahn-Hellersdorf, hätte es diesen Tag nicht gegeben. Ob der Umgang der Demokraten mit der NPD offensiver gewesen wäre. Klar ist: Der 8. September 2006 gehört zur Vorgeschichte für die Geschehnisse im Bezirksparlament seither, die hier protokolliert werden sollen.

17. September 2006. Wahltag in Berlin. 6,4 Prozent holt die NPD in Marzahn-Hellersdorf, es ist ihr bestes Ergebnis in einem Berliner Bezirk. Die NPD wird erstmals in die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) einziehen, ihre Verordneten dort sind: Wolfgang-Dieter Chieduch, Jahrgang 1945, Beruf Maurer. Karl-Heinz Burkhardt, Jahrgang 1939, Rentner. Und Matthias Wichmann, Jahrgang 1973, gelernter Maurer, ob und was er heute arbeitet, verrät er nicht.

Wichmann, in seinem Schlips-und-dunkle-Weste-Outfit leicht mit einem Kellner zu verwechseln, ist ein Kader der NPD und deren Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten. Er unterhält Kontakte zu den Freien Kameradschaften, fährt den Lautsprecherwagen auf Nazi-Demos und verteilt CDs mit rechtsextremen Liedern an Schüler. Das ist bei der örtlichen Antifa, bei der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus sowie bei Polis, der Bezirklichen Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus, zu erfahren.

18. September 2006. Der Aufschrei der Berufsdemokraten nach dem Schock erfolgt rituell. Die Leiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus warnt, dass die Bezirksverordnetenversammlungen als "weitere Bühne" für rechtsextremistische Propaganda missbraucht werden sollten. Ein Politikwissenschaftler von der Freien Universität mahnt, die demokratischen Politiker müssten deutlich machen, dass sie die Sorgen der Bürger ernst nähmen.

25. September 2006. Der Berliner SPD-Landesvorstand kündigt Schulungen für ehrenamtliche Politiker an, die künftig in den Bezirksparlamenten mit NPD oder "Republikanern" zu tun haben. Die erste Fortbildung mit Politikwissenschaftlern und Rechtsextremismusexperten soll am 6. Oktober im parteinahen August-Bebel-Institut stattfinden.

3. Oktober 2006. Anruf bei Klaus Mätz, dem SPD-Fraktionschef von Marzahn-Hellersdorf. Es ist der Tag der Deutschen Einheit, Mätz genießt seinen freien Tag: "Wir wissen im Moment überhaupt nicht, wer da von der NPD einzieht in die BVV. Wir müssen abwarten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die gleich loslegen wie die Weltmeister." Nein, er selbst werde nicht an der Schulung teilnehmen: "Ich bin 63 Jahre alt. Ich habe Lebenserfahrung. Ich werde mich verhalten können." Möglicherweise werde aber der Kollege Frenzel hingehen.

Doch Felix Frenzel hat andere Sorgen. Der Überfall durch die Neonazis liegt nicht einmal einen Monat zurück. Er hat Konsequenzen gezogen: "Ich will nicht zum Dauer-Nazijäger werden." Wer diesen Job übernehmen solle? Einen Tag später meldet Frenzel sich noch einmal: Der Gordon Lemm mache das jetzt ab sofort für die SPD, die Sache mit den Rechten, in der BVV.

6. Oktober 2006. Gordon Lemm überragt sie alle im Foyer des August-Bebel-Instituts. Er ist über einsneunzig, ein schlanker, sportlicher Typ mit offenem Blick und braunem, kurzen Haar, der Zigaretten selbst dreht, mit 29 Jahren immer noch Politik studiert und gern von seiner kleinen Tochter erzählt. Von den Abläufen in einem Bezirksparlament, das räumt er freimütig ein, hat er wenig Ahnung. Wie auch, er war noch nie Mitglied einer BVV, er ist absoluter Neuling. Aber, auch das sagt er, sie wollten ihn ja unbedingt haben in Marzahn-Hellersdorf, es gibt nicht viele junge Leute, die sich in der Lokalpolitik engagieren wollen, schon gar keine mit Studium. Er wiederum glaubt, dass sich sein Mandat im Lebenslauf gut machen wird. "Es müssen nicht nur immer die höheren Ziele motivieren, sondern auch das persönliche Vorankommen." Gordon Lemm kann charmant lächeln.

30 der rund 230 betroffenen Kommunalpolitiker aus den fünf Berliner Bezirken mit Rechtsextremen im Parlament sind gekommen. Vermittelt werden sollen ihnen Strategien im Umgang mit der NPD. Gordon Lemm zählt anschließend auf, was er gelernt hat: keine gemeinsame Politik mit der NPD. Alle Anträge der NPD grundsätzlich ablehnen, inhaltlich-sachlich sowie mit Verweis auf deren menschenverachtende Ideologie. Möglichst nur einen Redner auf die NPD reagieren lassen, stellvertretend für alle demokratischen Fraktionen. Überhaupt: schneller, besser, aktiver werden. Bezirkspolitiker müssen mehr Präsenz vor Ort zeigen, auch außerhalb des Wahlkampfs. Nur mit parlamentarischen Tricks dürfe die NPD nie ausgehebelt werden. Das mache ihre Abgeordneten nämlich zu Märtyrern in den Augen ihrer Wähler.

Gordon Lemm fühlt sich gut informiert. Über die NPD hat er zuletzt damals bei den Jusos öfter mal gesprochen; rechtsextreme Gewalt im Bezirk ist seit der Wende ein Dauerbrenner. Ihre Strukturen, ihre führenden Köpfe heute dagegen sagen ihm nicht viel. Das Kriterium, das ihn für sein neues Amt qualifiziert, ist ohnehin ein anderes, sagt Lemm: "Die Jungen kriegen immer die unangenehmen Aufgaben."

26. Oktober 2006. Im Freizeitforum Marzahn gibt es ein Schwimmbad, eine Bowlingbahn und ein Bräunungsstudio. In einem Saal im Stockwerk darüber wird die Legislaturperiode eröffnet - es geht um Politik für 250.000 Menschen. Man vergisst leicht, dass der Bezirk so groß ist wie eine Metropole. Die PDS-Fraktion erscheint in schwarzen T-Shirts mit dem Aufdruck "Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen". Der Alterspräsident hält eine bewegende Rede wider den Neonazismus. Im Foyer singt, eingerahmt von Ständen multikultureller Vereine, ein Russe zum Akkordeon. Fernsehteams filmen gern den zur Schau getragenen Widerstand.

Im Saal erfährt Gordon Lemm, letzte SPD-Reihe, zweiter Platz von links, wie die inhaltliche Auseinandersetzung mit der NPD in der Praxis aussieht. PDS, SPD, CDU, Grüne, FDP und WASG haben dazu ein gemeinsames Positionspapier unterzeichnet. Der NPD-Verordnete Chieduch beispielsweise darf keine persönliche Erklärung abgeben, weil er sie laut Geschäftsordnung zu spät beantragt hat. Die Demokraten feixen. Sie werten seine Unkenntnis als ihren Sieg.

16. November 2006. Auf diese Weise können sie in den folgenden Monaten mehrmals punkten: Einmal schlagen sie der NPD vor, deren Anträge bei der Abstimmung im Plenum auf die sogenannte "Konsensliste" zu setzen. Die NPDler stimmen freudig zu. Doch "Konsens" bedeutet in dem Fall nur, dass über die Drucksachen ohne öffentliche Debatte abgestimmt wird. Der Trick funktioniert einmal. Dann beschließen die Bezirkspolitiker, die Zahl der Ausschüsse von 15 auf 11 zu verringern. Die NPD, die Fraktionsstärke besitzt und damit Anspruch auf einen Ausschussvorsitz, geht bei dieser Arithmetik leer aus.

Im Ältestenrat sitzt, qua Status als Fraktionschef, der NPD-Mann Chieduch. Man kann ihn nicht loswerden. Aber man kann einen zweiten, informellen Ältestenrat bilden. Der tagt jeweils vor dem eigentlichen Ältestenrat und hat sodann bereits Einigkeit erzielt darüber, welche Drucksachen beispielsweise nicht auf die Tagesordnung kommen oder wie die Hausordnung zu interpretieren sei - ohne jemals Gefahr zu laufen, sich einer Konfrontation mit der NPD stellen zu müssen.

Keine Toleranz gegenüber Intoleranten - die Haltung ist legitim. Nur: Wenn man sich dafür entscheidet, warum dann heimlich?

Gordon Lemm wendet sich an seine Fraktionsspitze. "Wir müssen uns strategisch was überlegen, sie werden zurückschlagen, dann ist keiner von uns gewappnet." Die anderen winken ab. "Die Luft brennt ja nicht", bekommt Lemm zu hören. Er hält den Mund.

8. Januar 2007. Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten verurteilt zwei Neonazis wegen gefährlicher Körperverletzung - zu Bewährungsstrafen und je 1.000 Euro Schmerzensgeld. Es sind Felix Frenzels Täter. Das Gericht wertet es als strafmildernd, dass sich die brutalen Schläger von der rechtsextremen Szene losgesagt hätten. Vor Gericht schildert Frenzel, dass er Albträume habe. Dass er sich im Bezirk nicht mehr frei bewegen könne. Dass er sich nach den Sitzungen des Bezirksparlaments zum Auto begleiten lasse.

22. März 2007. Auf der Zuschauertribüne der BVV sitzen neuerdings Gestalten, die man hier früher nicht kannte: die Nazi-Kader Frank Schwerdt und Thomas Wulff beispielsweise, auch mal der frühere JN-Bundesvorsitzende Andreas Storr. Schwerdt, ehemaliges Mitglied des NPD-Bundesvorstands, ist vorbestraft, unter anderem wegen Volksverhetzung. Man kann sie beobachten, wie sie in den Pausen und am Rande der Sitzungen auf die NPD-Verordneten einreden. Manchmal haben sie Claqueure dabei, die jeder Äußerung der drei NPD-Verordneten Beifall zollen. Gordon Lemm sieht Schwerdt und die anderen nicht - weil er sie nicht kennt. Seine Informationen über die rechte Szene, sagt er vage, erhalte er "von Dritten".

"Ich wohn doch gar nicht mehr in Marzahn", gesteht er eines Tages. Schon Ende 2002 sei er weggezogen, "aus einem subjektiven Unsicherheitsgefühl heraus". Er, der als Politiker dazu beitragen soll, dass sich die Verhältnisse in Marzahn-Hellersdorf so ändern, dass beim nächsten Mal nicht noch mehr Menschen NPD wählen. Dessen Partei von ihren Wählern Zivilcourage einfordert. Er hat die Segel längst gestrichen, er wohnt jetzt in Pankow, an der Grenze zum Szeneviertel Prenzlauer Berg. "Dort", sagt er, "kann man sich wenigstens abends auf die Straße trauen."

26. April 2007. Wolfgang-Dieter Chieduch, Karl-Heinz Burkhardt und Matthias Wichmann von der NPD sind, man kann es nicht anders sagen, rhetorisch wie intellektuell eine Gurkentruppe. Zuweilen duzt Chieduch die anderen Verordneten. "Das gibts doch nicht, ihr habt so ne große Klappe", ruft er erbost in einer Diskussion über Flugblätter der Antifa, die in der BVV zirkulieren. Die Debatte über Suchtgefahren bereichert Wichmann mit der Äußerung: "Die Lage in Deutschland ist deswegen so schlecht, weil immer mehr Mittel für den Kampf gegen rechts ausgegeben werden, so dass immer mehr Menschen die BRD nur noch besoffen ertragen."

Welche Gefahr soll von solchen Leuten ausgehen? In der allgemeinen Verachtung für ihr Geschwätz entgeht vielen, wie sehr die drei von der NPD dazugelernt haben. Sie verstehen inzwischen einigermaßen mit der Geschäftsordnung umzugehen, und vor allem gelingt es ihnen allmählich, die anderen so zu provozieren, dass diese ihre Grundsätze über den Haufen werfen.

Wichmann beantragt, die Position der bezirklichen Migrationsbeauftragten umzubenennen in "Beauftragte für Ausländerrückführung". Tumult. Er fordert eine Gedenkfeier für vertriebene Deutsche aus der Zeit von 1918 bis 1947. "Mein Antrag", zischt der Neonazi Wichmann, "soll dafür sorgen, dass es hier zu einem Gegengewicht kommt zu Ihren ständigen deutschfeindlichen Gedenkminuten, ich sage nur: Auschwitzbefreiung, Ausstellung über die armen Zigeuner, wir sind hier in Deutschland, kein Volk wurde so gequält im letzten Weltkrieg wie das deutsche "

Es ist unerträglich. Einige halten sich die Ohren zu, andere rennen aus dem Saal, und Klaus-Jürgen Dahler, der PDS-Fraktionschef, brüllt: "Menschenverachtend!" Er pfeift auf die Verabredungen, von wegen immer schön sachlich und kühl die Ausfälle der NPD parieren, Dahler eilt ans Mikrofon: "Was hier gesagt wurde", ruft er, "widerspricht dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, ich bitte Sie, Frau Vorsteherin, entziehen Sie den Verordneten, die gegen den Verfassungsgrundsatz verstoßen, das Rederecht!"

Die Sitzung wird unterbrochen. Das Rechtsamt soll die Äußerungen prüfen. Bis dahin muss Wichmann schweigen. Ein paar Wochen später wird das Prüfungsergebnis bekannt gegeben: Wichmanns Ausfälle sind nicht justiziabel.

12. Mai 2007. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung lädt in Hellersdorf zur Tagung "Großsiedlung und Rechtsextremismus". Neben Wissenschaftlern und besorgten Bürgern sind auch Bezirkspolitiker im Publikum. Gordon Lemm ist nicht da. Es geht um sein Thema, es geht um seinen Bezirk. Später wird er sich rechtfertigen: Er sitze in zwei bezirklichen Ausschüssen. Er nehme an den Fraktionssitzungen teil. Er müsse sich auf die BVV vorbereiten. Er habe eine Familie, ein Studium und zwei Nebenjobs an der Uni. "Was erwarten Sie", fragt Gordon Lemm, "was soll ich denn noch alles ehrenamtlich machen?"

Der Leiter der Bezirklichen Koordinierungsstelle Polis, Ricardo Taschke, der sein Gehalt für die Analyse demokratiegefährdender Phänomene immerhin vom Bezirk erhält, sagt, er wundere sich, dass seit dem Einzug der NPD in die BVV nicht eine Fraktion sein - kostenloses - Wissen in Anspruch genommen habe. Er stehe zur Verfügung.

Da schaltet sich aus einer hinteren Reihe Marlitt Köhnke, Bezirksverordnete der SPD und eine eher stille Frau, ein. "Ich glaube", sagt sie zögerlich, "dass wir nachdenken müssen, ob das der richtige Umgang mit der NPD ist, den wir pflegen. Im Prinzip grenzen wir sie bloß aus, wir müssen uns aber mit ihnen auseinandersetzen, wir verschenken sonst unsere eigenen Möglichkeiten, die Bürger mitzunehmen." Klare Worte. Köhnke erntet Schweigen.

28. Juni 2006. Die Big Band der Musikschule hat das Bezirksparlament besetzt. Sie spielt ohrenbetäubend, beklatscht von gut 100 Demonstrierenden. Der Musikschule sollen sieben von zwölf festen Musiklehrerstellen gestrichen werden. Das will die BVV heute beschließen. Unmöglich, bei diesem Lärm die Haushaltsberatungen fortzusetzen. Die Verordneten nehmen eine Auszeit.

Matthias Wichmann von der NPD beginnt sofort, einen Stapel Visitenkarten zu verteilen. Wer Hilfe brauche, könne sich an ihn wenden, jederzeit. "Ist doch egal, von welcher Partei der ist, wenn er was tut", sagt eine Frau.

Gordon Lemm ist auch bildungspolitischer Sprecher der SPD. Er hat den Kürzungsplänen zugestimmt, stumm nimmt er die Beschimpfungen entgegen, er kennt die Haushaltslage, da sei nichts zu machen, sagt er. Wenn er zuvor an die Musikschule gegangen wäre? Mit den betroffenen Schülern, Lehrern, Eltern diskutiert hätte? Gordon Lemm holt Luft. "Das", sagt er dann, "sehe ich nicht als meine Aufgabe, da habe ich keine Zeit für. Wir haben hier regelmäßig Bürgerfragestunden. Die Leute müssen zu uns kommen, wenn sie etwas wollen." Die Demonstranten halten Transparente hoch. "Wir sind die Wähler von morgen", steht auf einem.

20. August 2007. Elf Monate nach der Wahl lädt die SPD-Fraktion Ricardo Taschke von Polis in ihre Sitzung ein. Taschke empfiehlt eine verstärkte inhaltliche Auseinandersetzung mit der NPD. Er verspricht, Auszüge aus dem NPD-Programm mit Anmerkungen zu schicken, damit die Verordneten wissen, mit wem sie es zu tun haben. Auch kündigt er einen Runden Tisch gegen Rechtsextremismus im Bezirk an. Gordon Lemm verpasst den Termin.

30. August 2007. Deutschland debattiert die Kinderarmut. In Marzahn-Hellersdorf lebt jedes zweite Kind unter sieben Jahren in einem Hartz-IV-Haushalt. Die Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle (Die Linke) verliest in der BVV die bezirkliche Statistik. Einige Verordnete legen eine Zigarettenpause ein, andere drücken sich an der Bar im Foyer rum. Es gibt nur eine Nachfrage zur Kinderarmut, sie kommt von der NPD. "Und wat wird nu endlich gemacht?" Außerdem verlangt Wolfgang Chieduch nicht nur prozentuale, sondern absolute Zahlen. Pohle kehrt zum Rednerpult zurück. "Wer des Lesens kundig ist, kann die Zahlen in der Presse nachlesen." Sie bekommt viel Applaus.

Auf ihre Weise haben es die Demokraten den Nazis gerade wieder richtig gegeben.

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