Zeitung der Zukunft: Geistige Umweltverschmutzung

In der Print-Zukunfts-taz nur chinesisch verstanden? Sechs Punkte über die Zukunft des Pressewesens in unserem Lande. Auf deutsch.

Das original chinesische Foto aus Shanghai ist Tilman Spenglers Führerschein entnommen. Bild: privat

1. Die Welt ist nach wie vor in großer Unordnung, auch für die Aufgaben des Pressewesens ist die Lage ausgezeichnet. Allerdings hat sich die objektive Realität in den letzten Jahrzehnten vielfältig geändert. Der sozialistische Wettbewerb um Nachrichten ist härter geworden, das ist die eine Seite der Herausforderung. Die Haltbarkeit von Meinungen ist dagegen weicher geworden. Das ist die zweite Seite der Herausforderung. Ausgehend von den Beschlüssen des letzten Parteitags verfolgen wir eine Weiterentwicklung unseres Mediums, das sowohl den fortgeschrittenen Bedingungen des Marktes wie den Bedingungen des fortgeschrittenen Sozialismus entspricht. Harmonie ist unser Ziel, Kampf das Mittel. Wir müssen das Schwergewicht unserer Berichterstattung künftig noch stärker nach der Linie: "Eins bewahren als Kern, Vieles melden als Praxis" ausrichten. Dabei sollte unser Vorgehen sowohl die Vielfältigkeit der objektiven Erscheinungen widerspiegeln wie die korrekten Entscheidungen unserer Führung und ihrer landesweiten Organe.

2. "Das interessiert doch die Massen nicht mehr als ein Furz", ist ein negatives Urteil über Artikel, die den Bedürfnissen der entfalteten Marktwirtschaft zuwider laufen. Ist diese Kritik berechtigt? Die Werktätigen unseres Landes haben ein unterschiedliches Niveau in ihrer Bildung, entsprechend verhält es sich mit ihren Vorlieben für Nachrichten. Allgemein gesagt verhält es sich so, dass die meisten Leser Meldungen bevorzugen, in denen von Außergewöhnlichem berichtet wird. Landwirtschaftliche Produkte, Kohlköpfe, Gurken oder Melonen, zum Beispiel, die durch ihre besondere Größe auffallen, erregen immer wieder die Neugier unseres Publikums. Das gleiche gilt für Tiere, deren Verhalten nicht der Norm ihrer Artgenossen entspricht, wie singende Bären, ausgefallene Sitten fremder Völker, wenn diese nicht dem Spott preisgegeben werden, ausgefallene, kostspielige Kleidungsmoden, Fälle von bizarrem Glück oder Unglück, die aus dem Alltag nicht erklärt werden können. Diese Nachrichten werden auch von unseren Anzeigenkunden gerne wahrgenommen, weil auch die Werbung auf das Ungewöhnlich setzt. Wie der Vorsitzenden des Aufsichtsrates der Volkszeitung, der Genosse Rupert Murdoch auf dem letzten Parteitag erklärte: "Die Wahrheit ist immer die wirtschaftliche Lösung und die wirtschaftliche Lösung ist daher immer die Wahrheit."

Man nehme nur das Wörtchen "Wen", wie im Familiennamen von Chinas Premier Wen Jiabao. Das e hoch betont, bezeichnet es einen freundlichen Menschen, tief gesprochen nimmt man an, dass der Mann einem die Kehle durchschneidet. Natürlich wird der Politiker Wen ganz anders betont. Nur: Kann eine Sprache, die mehr als 40.000 Schriftzeichen besitzt und in der eine etwas andere Betonung schon ins Fettnäpfchen führt, zu einer Weltsprache werden?

Sie kann. Allein die Masse machts. Ein Fünftel der Menschheit spricht schon Chinesisch.

Und Chinesisch hat sich schon längst zu einer Lingua franca der Globalisierung entwickelt. Schließlich soll sich die Prognose der Weltbank erfüllen, die China schon als zweitgrößte Wirtschaftsmacht vor Japan für das Jahr 2020 ausgerufen hat.

Im Internet zeigt sich das bereits: Im Netz verliert die englische Sprache an Bedeutung. Zur Jahrtausendwende war noch mehr als die Hälfte aller Internetinhalte auf Englisch, fünf Jahre später nur noch ein Drittel. Vor allem Chinesisch hat aufgeholt: Von 5,4 auf 13 Prozent haben sich die WWW-Inhalte in chinesischer Sprache mehr als verdoppelt.

"Das nächste Muss ist Mandarin", sagt der Sprachforscher David Graddol, der versucht hat, die Entwicklung der Weltsprachen zu prognostizieren. 2050, so sein Ausblick, werden sich nur noch 5 Prozent der Menschen auf dem Globus auf Englisch unterhalten, aber mehr als 12 Prozent auf Chinesisch. Die Regierung in Peking unterstützt die Ausbreitung der Sprache. Sie hat 2004 die Konfuzius-Institute gegründet, eine Entsprechung zu den deutschen Goethe-Instituten. Das Ziel: Weltweit 200 Institute bis 2010. Die Zahl der Chinesischlernenden soll in den nächsten Jahren von 30 Millionen auf 100 Millionen ansteigen.

In Deutschland belegten 2005 rund 10.000 Menschen einen Chinesischkurs an einer deutschen Volkshochschule. Noch einmal so viele, schätzt der Fachverband Chinesisch, lernen an der Schule oder Uni die Sprache. Rund 100 Gymnasien im Bundesgebiet bieten die Sprache als Fach, zum Teil bis zum Abitur.

Und das lohnt sich. Denn die Chinesen kommen. Bereits 418.000 Reisende aus dem Reich der Mitte zählte die Bundestagsverwaltung 2006 in Deutschland. Die Tourismusabteilung der UNO schätzt, dass sich die Zahl der Touristen aus China in Europa bis 2010 annähernd verzehnfacht. 4 Millionen also - so viele Touristen, wie derzeit aus den USA nach Deutschland reisen. JÖRN KABISCH

3. Für die Pressearbeit im marktwirtschaftlichen Sozialismus chinesischer Prägung muss das Außergewöhnliche unterschieden werden in das negativ Außergewöhnliche und das positiv Außergewöhnliche. Die natürliche Heimat der positiv außergewöhnlichen Nachricht ist das eigene Vaterland. Negativ Außergewöhnliches aus dem eigenen Land soll nur gemeldet werden, wenn die zuständigen Organe zuvor die entsprechenden Anweisungen erteilt haben. Dabei muss die grundsätzliche Richtlinie beachtet werden, dass gemäß den Prinzipien des demokratischen Zentralismus die lokal zuständigen Organe zunächst den zentral zuständigen Organen einen nicht-öffentlichen Bericht zustellen, damit auf dieser Ebene über das weitere Vorgehen entschieden werden kann. Auf keinen Fall darf ein Artikel über das Vorkommen oder die Tragweite eines örtlichen Vorfalls ohne sorgfältige Rücksprache mit der und Genehmigung durch die jeweils höheren Instanzen gedruckt werden. Diese Regel folgt den Geboten der allseits zu entfaltenden sozialen Harmonie in unserem Lande. Sie gilt immer und überall und besonders bei Meldungen über angebliche Missstände wie Korruption, Willkür örtlicher Behörden, Umweltschäden, das Treiben aufrührerischer Elemente oder tragische, weil unvermeidliche Unfälle im industriellen Produktionsprozess.

Bei außergewöhnlich positiven Nachrichten ist darauf zu achten, dass die Personen, denen ein Erfolg zugeschrieben wird, auch konkret dem gesellschaftlichen Vorbild eines sozialistischen Helden entsprechen. Es ist schädlich, eine Person als Leitbild vorzustellen, die den hohen Anforderungen der Partei nicht entspricht, da sonst falsche Modelle der Leserschaft leichtfertig und völlig ungerechtfertigt trügerischen Sand in die Augen streuen.

4. Sind Photographien von unseren führenden Kadern ein Festschmaus für die Augen der Leser? Diese Frage ist nicht unter allen Umständen mit derselben Antwort zu entscheiden. Zu beachten sind erstens der Anlass, zweitens die Bedeutung, drittens die Umstände und viertens die Lichtverhältnisse.

Anlässe ergeben sich täglich aus dem korrekten Vollzug der Beschlüsse unserer politischen Organe. Dabei gilt es, eine genaue Unterscheidung zwischen sehr wichtigen, mittelwichtigen und wichtigen Anlässen zu treffen. Die Bedeutung des Anlasses legt die Größe und die räumliche Position im abzudruckenden Lichtbild eines Kaders oder einer anderen Person des öffentlichen Interesses fest. Sehr wichtige Anlässe sind alle Gedenktage des Staates und der Kommunistischen Partei, mittelwichtige Anlässe ergeben sich aus vertraglichen Abschlüssen, die für in unserer Wirtschafts- und Außenpolitik neue Schwerpunkte setzen oder aus der politischen Verantwortlichkeit für Sportergebnisse, bei denen sich chinesische Athleten ausgezeichnet haben. Wichtige Anlässe werden von Fall zu Fall bestimmt.

Bei der Beurteilung der Umstände muss unbedingt darauf geachtet werden, dass sich im Antlitz unserer Kader das Gesicht des Volkes widerspiegelt. Dieses Gesicht sollte den energischen Kampf in einer sozialistischen Marktwirtschaft und das entschlossene Streben nach gesellschaftlicher Harmonie zeigen. Bei Photos mit ausländischen Gästen ist zusätzlich unbedingt nach dem Prinzip der umfassenden Harmonie von unterschiedlichen Körpergrößen und -umfängen zu verfahren. Die Lichtverhältnisse sind so zu gestalten, dass die Züge der abgebildeten Personen nicht durch Schatten entstellt, sondern deren markante Eigenschaften hervorgehoben werden. Nur wenn diese Anweisungen korrekt befolgt werden, wird das abgebildete Photo tatsächlich zu einem "Festschmaus für die Augen". Für negativ darzustellende Personen gilt in jedem Punkt das Gegenteil.

6. Geistige Umweltverschmutzung ist auch eine Gefahr für das Pressewesen. Das ist eine der Lehren, die aus den Kampagnen der letzten Jahrzehnte gezogen werden musste und gezogen worden ist. Können die Zeitungen unseres Landes noch weitere Beiträge zum Umweltschutz leisten? Diese Frage sollte auf allen Ebenen sorgfältig diskutiert werden. Solange Zeitungen auf Papier gedruckt werden, entsteht ein Bedarf nach Holz und damit eine Belastung der nationalen Ressourcen. Beim Herstellen von Presseorganen fallen aber auch noch andere schädliche Faktoren an: Reporter unternehmen Reisen, die Energiemittel binden und damit anderen Produktionszweigen verloren gehen. Auch die Kosten für Elektrizität sind beachtlich. Unsere heutigen Zeitungen und Nachrichten sind keine Eßstäbchen, sie können nicht beliebig wieder verwendet werden. Unter den Gesichtspunkten des Umweltschutzes wäre es aber wünschenswert, nur noch Produkte in Umlauf zu bringen, die bei hoher Qualität eine lange Verbrauchsdauer aufweisen. Hier müssen wir langfristig neue Ziele stecken. Die Reden unserer führenden Kader, um ein Beispiel zu nennen, sind ein glänzendes Vorbild für lange Haltbarkeit und ein hohes Potenzial an Wiederverwendbarkeit. Dasselbe trifft auf die Nachrichten zu, die, wie unter Punkt 2 erwähnt, von außergewöhnlichen Erscheinungen berichten, es muss nur ein angemessener zeitlicher Abstand für die jeweilige Wiederverwendung beachtet werden. So kann die Presse dem Gebot der Vielfältigkeit entsprechen, ohne gegen die Gebote des Umweltschutzes zu verstoßen. Es liegt in dieser Maßnahme auch eine Entlastung der Kader, die mit der Kontrolle über Veröffentlichungen betraut sind, da die Texte nicht bei jeder Meldung einer neuen Überprüfung unterzogen werden müssen.

Es ist zu hoffen, dass diese Vorschläge in den zuständigen Gremien Beachtung finden.

Tilman Spengler (60) ist Schriftsteller und seit 1980 Mitherausgeber der Zeitschrift Kursbuch. Er studierte Sinologie in München und Taipeh. Bekannt wurde Spengler durch die Romanbiografie "Lenins Hirn", die in über 20 Sprachen übersetzt wurde.

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