Ein Mekka für Häuslebauer

Kreuzberg ist seit 300 Jahren Anziehungspunkt für Migranten aus aller Welt. Die größte Gruppe stellen die Schwaben. Das wird nun auch in einer Ausstellung des Kreuzberg-Museums gewürdigt

VON CHRISTOPH VILLINGER

Spätestens Mitte der 90er-Jahre hatten sie es geschafft. Während sich die Blicke auf die türkischen MigrantInnen richteten, stiegen sie heimlich zur größten Zuwanderergruppe in Berlin auf: die Schwaben. Zu den etwa 140.000 Menschen aus der Türkei gesellen sich inzwischen nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 160.000 und 200.000 Menschen aus Baden-Württemberg. So wartete alle Welt auf den ersten Kreuzberger Bürgermeister türkischer Herkunft, doch tatsächlich übernahmen die Schwaben das Bezirksamt. Seit 2002 regiert mit Cornelia Reinauer (PDS) eine waschechte Schwäbin aus Albstadt den multikulturellen Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, und Sigrid Klebba (SPD), die Stadträtin für Jugend und Bildung, stammt aus Schwäbisch Gmünd.

Liegt es an dieser Ballung politischer Macht, dass es für Schwaben offensichtlich bis in die dritte Generation hinein eine Ausnahmegenehmigung hinsichtlich eines Sprachkurses gibt? Müssen andere MigrantInnen bei Sprachtests Integrationswillen beweisen, verkünden die Schwaben frech von Plakaten herab „Wir können alles, außer Hochdeutsch“. Dabei ist der Schwabe im Prinzip international: egal, wo er ist, er fühlt sich im Herzen als Schwabe und mit seiner Heimat verbunden.

Nachdem es im 19. Jahrhundert die auswanderungswilligen jungen Schwaben vor allem in die USA gezogen hatte, setzte im 20. Jahrhundert eine stetige Migration in Richtung Berlin ein. Erinnert sei hier an Bertolt Brecht oder die Frauenrechtlerin Clara Zetkin, an den aus einer jahrhundertealten jüdisch-schwäbischen Familie stammenden Albert Einstein oder an den Arzt und Dramatiker Friedrich Wolf. Dessen in Hechingen geborene Söhne machten sich in der DDR einen Namen, Konrad als Leiter der Filmhochschule Potsdam und Markus „Mischa“ als legendärer Chef der Auslandsaufklärung der Staatssicherheit.

Seit Mitte der 1960er-Jahre setzte eine neue Migrationswelle junger Menschen aus dem politisch und landschaftlich recht „engen“ Baden-Württemberg in die weiten Straßen Westberlins ein. Hier ist der Horizont nicht dauernd vor irgendwelchen „Buckeln“ verstellt. Viele wie die schwäbische Pfarrerstochter Gudrun Ensslin oder der heutige Umzugsunternehmer Klaus Zapf wollten „von hier aus die Weltrevolution lostreten“. Der Kraichgauer Zapf ist allerdings streng betrachtet kein Schwabe, sondern Badener.

Dazu kam für junge Männer ein gravierendes Problem: Wenn sie nicht auf ihre „Brüder und Schwestern“ schießen wollten, mussten sie sich vor der Bundeswehr drücken. Und wo war man sicherer als zwischen „Mündungsfeuer und Aufschlag“? Ihre kulturelle Nähe zu den Ostberlinern bestätigte sich nach der Wende schnell, denn bei der „Datsche?“ handelt es sich um nichts anderes als ein schwäbisches „Stückle“.

So kamen sie nun und jede Generation zog die nächste nach. Mit leuchtenden Augen berichteten 1980/81 schwäbische SchülerInnen von den ersten Hausbesetzungen. Bald gehörte die „schwäbische Landjugend“ zu den gefürchtetsten Gegnern der Berliner Polizei. Einige hatten sogar schlau ausgerechnet, dass Bausparen zu lange dauert und man mit einem besetzten Haus schneller zum Eigenheim kommt. Bald fühlten sie sich in „ihrem Kiez“ wie zu Hause. Im Schutz der Mauer entwickelte sich ein eigenes schwäbisches Dorfleben. Mit anderen Inhalten als bei den konservativen Verwandten im Südwesten, aber eine Sau jagte man immer noch gerne durchs Dorf.

Auf eines wollte man auf keinen Fall verzichten, das „guade Essen“ von zu Hause. In der Oranienstraße eröffnete 1984 der „Schwarzwaldladen“. Die Versorgung mit Maultaschen und Laugenbrezeln war gesichert. Um die Pflege der heimatliche Sprache kümmerte sich die Theatergruppe „Schwabenoffensive“ im Mehringhof.

Nur der Mauerfall störte eines Tages die Idylle. Dagegen wehrte man sich heftig mit den zu Hause gelernten Parolen wie „Alles soll so bleiben, wie es ist“ und „Keine Experimente“. Als dies nichts half, zogen einige ins Umland oder kehrten gar nach Baden-Württemberg zurück.

Aber die meisten blieben in Berlin und arrangierten sich mit der neuen Situation. Und nun kamen sogar ihre Eltern nach. „Dr Daimler“ errichtete am Potsdamer Platz seine Dependance. Auch Politiker, für die das alte Westberlin immer nur ein Synonym für das „Sündenbabylon“ war, zogen nun mehr oder weniger gezwungen in die neue Möchtegern-Metropole. Aber dies ist eine andere Geschichte.