Vertracktes Setting

Für seinen Aktionstag zur Globalisierung hat Christian von Borries Fangesänge und Arbeiterlieder von einem Chor üben lassen. Abends wurde in der Volksbühne gesungen und über Sweatshops diskutiert

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Vor der Probe bekommen wir Cola-Dosen. Die müssen wir austrinken, damit sie einen guten Resonanzkörper abgeben. Jetzt stehen wir neben der Volksbühne, hinter dem „Fanshop der Globalisierung“, und kratzen mit Schrauben an den Büchsen. Der Chorleiter findet, dass es wie die Nähmaschinen klingt, die chinesische Arbeiterinnen auf ihren 0,8 Quadratmeter Platz bedienen, um gegen Hungerlohn Kleidungsstücke für global spielende Sportartikler herzustellen. Also kratzen wir und singen dazu die chinesische Nationalhymne. An unseren schwitzigen Leibern tragen wir T-Shirts, auf denen „Made in China“ steht. Dabei sind die Shirts doch von American Apparel ganz fair in L.A. zusammengenäht worden.

Ob das jetzt ein hübsch doppelbödiger oder aber völlig bescheuerter Widerspruch ist – dazu bleibt uns keine Zeit zu überlegen. Chorleiter Christian von Borries hat uns in drei glutheißen Nachmittagsstunden durch die Probe gehetzt, auf dass wir jetzt am Abend eine Diskussionsrunde mit einem musikalischen Programm garnieren können, das „alle Aspekte der Globalisierung“ beinhalten soll. Die stehen auf 17 Partiturseiten voll mit Nationalhymnen, Stadiongesängen und Arbeiterliedern. Für die überschaubare Gruppe Freiwilliger, die sich um den Chorleiter eingefunden hat, ist das erst mal weniger Globalisierung als eine ganz gehörige Menge Noten und Texte. Aber man strengt sich an, um von Borries’ Aktionstag „We make the World – Du bist Globalisierung“ zum künstlerisch-politisierten Komplettpaket zusammenschnüren.

Ganz schön vertracktes Setting, das sich von Borries da ausgedacht hat. Es soll nur Teilnehmende geben und keine Bloß-Konsumenten. Also sitzen abends vor den Chorsängern ein deutscher Jungunternehmer, eine Oxfam-Referentin, ein Financial-Times-Journalist und ein Ex-Attac-Mann. Sie alle erkennen „Corporate Social Responsibility“ als derzeit heißes Marketinginstrument und sind ansonsten geteilter Meinung darüber, ob die Globalisierung mehr Chance oder mehr Problem für Drittwelt- und Schwellenländer ist. Olaf Gersemann, „Teamleiter Ausland“ bei der FTD, redet davon, wie die Globalisierung in den letzten Jahren „hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit“ habe. Ein „falsch verstandenes Mitgefühl“, also die Einführung von Sozialstandards wie Mindestlöhnen, würde aber dazu führen, dass die „armen Menschen“ sofort nicht mehr konkurrenzfähig wären und ihre schönen neuen Jobs gleich wieder verlören.

Wie das aussieht mit diesen Jobs, hat der Chor vorher in dem Film „China Blue“ besichtigt: Die 17-jährige Yasmin geht vom Land in die Textilstadt Shaxi, um in einer Jeansfabrik Geld zu verdienen. Sieben Tage die Woche schneidet sie Fadenenden an Hosennähten ab, für circa sechs Cent die Stunde. Ein normaler Arbeitstag hat 17 Stunden, in Stoßzeiten vor Lieferterminen muss sie 29-Stunden-Schichten schieben. Energie-Tee und Wäscheklammern in den Augenlidern helfen.

Der Autor und Ex-Attac-Aktivist Matthias Stuhr liefert auf dem Podium noch mehr Zahlen: Von den 200 Euro, die ein Nike-Schuh koste, blieben ganze 20 Euro in den Produktionsländern. 180 Euro würden im Westen in den eigentlichen Wert, die „Marke“, also in Werbung, Marketing und Managergehälter, gepumpt. Stuhr will trotzdem nicht zum Boykott aufrufen, sondern anregen, eben „andere Produkte zu kaufen“. Franziska Humbert von Oxfam möchte nicht als Gutmenschin dastehen und sieht die Nichteinhaltung internationaler Standards nicht nur als ethisches Problem, sondern auch als „business case“, der ganz erhebliche „hidden costs“ verursacht. Derweil ängstigt sich Gersemann um Globalisierungsverlierer Deutschland.

In diese Nichtdiskussion schaltet von Borries immer wieder den Chor ein: Wir singen die China-Hymne und die von Nordkorea, wir legen beschämende Textunsicherheiten bei der „Internationale“ an den Tag, sind besser in der Imitation englischer Fußballfans und brüllen „Rrrroooaaarrr!“. Wir intonieren mit samtweichen Verführerstimmen Werbeslogans und schreien rhythmisch „Niketown! Benetton! Disneyworld!“. Die vier Experten schauen uns mit diesem Nikolaus-Blick zu – jenem scheußlich wohlmeinenden, mitleidigen Blick, den der Typ mit der Mitra früher immer absonderte, wenn man stotternd sein Schneegedichtchen vortrug.

Die Idee für eine kollektiv-chorische Solidaritätsadresse an die Ausgebeuteten der Welt war gut; eine etwas weniger komik-affine Umsetzung, ohne Dosen, Slogans und „We never walk alone“ am Schluss, wäre ihr aber auch nicht schlecht bekommen.