Die Vielfalt der Sieger

Bei den 63. Filmfestspielen in Venedig gab es so viele sehenswerte, anregende, herausfordernde Filme wie seit langem nicht mehr. Der Goldene Löwe ging überraschend an den chinesischen Regisseur Jia Zhangke für seinen Film „Sanxia Haoren“

Mit dem Preis an Straub/Huillet wird das Spröde, Theoretische nicht gerade noch am Rand geduldet, sondern anerkannt

VON CRISTINA NORD

„Ein furchteinflößendes Projekt“ sei es, an einem Spielfilm über die Tage nach dem Unfalltod von Prinzessin Diana mitzuwirken; darin die Rolle der Königin Elizabeth II. zu übernehmen, sei gar eine „no-win situation“. So äußert sich Helen Mirren in der Pressekonferenz zu Stephen Frears’ Film „The Queen“ und erklärt warum: Nicht nur, weil die Königin eine Person des öffentlichen Lebens ist, sondern auch, weil sie in Großbritannien allgegenwärtig ist. „Jeder von uns trägt ihr Bild unentwegt mit sich, sein ganzes Leben lang“, sagt Mirren. Diesem Bild gerecht zu werden, ist für eine Schauspielerin eine vertrackte, wenn nicht unmögliche Aufgabe.

Wer Helmut Kohl erlebt hat, kann zumindest ahnen, was mit Allgegenwart gemeint ist: die Unausweichlichkeit einer Person des öffentlichen Lebens. Wohin man geht, wohin man blickt, man begegnet ihr, und das führt dazu, dass diese Person einem auf eine seltsame Weise nahekommt, in die Träume eindringt, „vollkommen vertraut und zugleich enigmatisch“ sei, wie Mirren sagt. Der Unterschied zu Kohl ist freilich der, dass die Allgegenwart der britischen Königin andauert – schließlich war ihre Amtszeit nicht nach 16 Jahren zu Ende, sondern hält seit ihrer Krönung am 2. Juni 1953 an.

Aber ist Helen Mirrens Projekt tatsächlich zum Scheitern verurteilt? Nein – und zwar schon deshalb nicht, weil die Schauspielerin am Samstagabend in Venedig die Coppa Volpi für die beste weibliche Darstellerin entgegennahm, mithin eine veritable „win-situation“ genoss. Dass genau dies geschehen würde, daran zweifelte seit der Premiere des Films in den ersten Tagen der 63. Mostra internazionale d’arte cinematografica ohnehin niemand. Zu Recht: Denkt man zunächst, Frears’ Film führe die königliche Familie und besonders die Königin vor, weil sie kalt und arrogant auf den Tod Dianas reagieren, so ändert sich dieser Eindruck im Fall der Königin recht bald. Helen Mirren verleiht der Figur eine Tiefe und Komplexität, ja, eine fast tragische Dimension. Eine Ordnung, die Jahrzehnte, Jahrhunderte über in Kraft war, ein Regelwerk aus Diskretion, Anstand und Würde, das sich im Protokoll und in der Etikette materialisiert, stehen im Begriff, an ihren Endpunkt zu gelangen. Wer wie die Königin in diesem Regelwerk aufging, kommt mit dem Neuen, mit den massenmedial produzierten Emotionen, mit dem Starkult, mit der hemmungslos ausgestellten Trauer nicht zurecht. Mit anderen Worten: Die Königin kann gar nicht anders, als an den Befindlichkeiten der allermeisten Briten vorbeizuleben, und das tragen diese ihr nach. Helen Mirren findet für ihre anfängliche Blindheit gegenüber dieser Entwicklung und das anschließende zögerliche Erfassen der Situation genau die richtigen Gesten und den richtigen Tonfall. Wie sie ihre seidenen Kopftücher schützend um den Kopf bindet, wie sie desinteressiert auf die vernichtenden Schlagzeilen in den Zeitungen blickt, wie sie schließlich vor den Toren des Buckingham Palace an dem Blumenmeer zu Ehren Dianas entlanggeht und ihren Blick über die vielen gegen sie gerichteten Bosheiten streifen lässt, ohne dass ihr Gesicht sich regte – das alles ist eine überragende Darstellungsleistung.

Die weiteren Preise bergen größere Überraschungen. Einen Speziallöwen etwa vergab die Jury unter Vorsitz Catherine Deneuves an Jean-Marie Straub und Danièle Huillet für ihr sprödes Filmessay „Quei loro incontri“ („Jene ihre Begegnungen“). Und das, obschon noch am Freitag in den Pressefächern ein handgeschriebener, kopierter Zettel lag, auf dem Straub – weder er noch seine Gefährtin Huillet waren zur Pressekonferenz und zur Premiere des Filmes angereist – klagte: „Im übrigen kann ich im Rahmen eines Festivals, auf dem soviel öffentliche und private Polizei ist, die nach einem Terroristen suchen, nichts feiern – ich bin der Terrorist, und ich sage euch, indem ich Franco Fortini paraphrasiere: Solange es den imperialistischen amerikanischen Kapitalismus gibt, kann es auf der Welt nicht genug Terroristen geben.“

Gut, dass Straubs und Huillets Filme sich auf einer anderen Ebene bewegen als solche verbitterten Botschaften, gut, dass die künstlerische Radikalität der beiden vielschichtiger ist als der politische Kommentar – und umso besser, dass die Jury eines großen A-Festivals dies anzuerkennen imstande ist. Es ist ein guter Schritt nicht nur für „Quei loro incontri“ und dessen Reflexion über das Fortbestehen des Mythos in der Gegenwart, es ist auch ein klare Positionierung: Die Jury feiert mit ihrer Entscheidung die Vielfalt dessen, was Kino sein kann. Das Spröde, Theoretische wird nicht gerade noch am Rand geduldet, sondern anerkannt, ein Film, der sich als Denkaufgabe statt als Herzenssache, als Reflexion statt als Emotion, als Essay statt als Aktion begreift, wird geehrt.

Der wichtigste Preis, der Goldene Löwe, ging – auch dies eine Überraschung – an den chinesischen Regisseur Jia Zhangke für seinen Film „Sanxia Haoren“ („Still Life“). „Sanxia Haoren“ war zu Beginn des Festivals nicht im Katalog verzeichnet. Dass er als 22. Film im Wettbewerb laufen sollte, war erst zu erfahren, als das Geheimnis um den diesjährigen Überraschungsfilm gelüftet wurde. Nach den ersten Vorführungen machte sich jedoch eine gewisse Skepsis breit: Der neue Film des 1970 geborenen Regisseurs knüpft nicht ganz an die Stärke seiner früheren Arbeiten an.

„Sanxia Haoren“ spielt in der Stadt Fengjie am Jangtse-Fluss, dort, wo der Drei-Schluchten-Staudamm eine ganze Region auf immer verändert. Teile der Stadt stehen bereits unter Wasser, andere werden auf die Flutung vorbereitet. Bauarbeiter reißen Häuser ein, Archäologen versuchen zu retten, was noch zu retten ist. Ein Minenarbeiter kommt in die Stadt, weil er nach seiner ehemaligen Frau und der gemeinsamen Tochter sucht. 16 Jahre hat er die beiden nicht gesehen. Die Straße, in der sie wohnten, gibt es nicht mehr. In einem zweiten Handlungsstrang erreicht eine Krankenschwester Fengjie, auch sie sucht ihren Ehemann. Gefilmt ist das auf Digitalvideo, für die Kamera zeichnet Yu Likwai verantwortlich, der schon an Jia Zhangkes anderen Filmen mitgewirkt hat – damals mit größerer Fortune, da die Luminösität, die Farbigkeit und die Tiefenschärfe, die Yu Likwai mit der hochauflösenden Digitaltechnik etablierte, dort besser zur Geltung kamen als in der jüngsten Arbeit. Vielleicht liegt hierin ein Problem von „Sanxia Haoren“: Der Film registriert zwar sensibel die Transformationen des gegenwärtigen China und die Art und Weise, wie die Vergangenheit und die Erinnerungen so nachhaltig ausgelöscht werden, dass der Einzelne nicht anders denn überfordert sein kann von dem Verlust. Doch er markiert auch ein Stocken im Oeuvre Jia Zhangkes; anstatt dessen Reichtum zu vergrößern, tritt der Film auf der Stelle.

Ein wenig erstaunt deshalb, dass die Jury „Sanxia Haoren“ auszeichnete, während sie zwei andere herausragende asiatische Wettbewerbsbeiträge außer Acht ließ. Apichatpong Weerasethakuls „Sang Sattawat“ („Syndromes and a Century“) sowie Tsai Ming-Liangs „Hei Yanquan“ („I Don’t Want to Sleep Alone“) gingen bei der Preisvergabe leer aus. Dabei wäre der Hauptdarsteller von Tsai Ming-Liangs Film, Lee Kang-Sheng, ohne Frage ein würdiger Empfänger für den Darstellerpreis gewesen, schließlich beherrscht er die Kunst, bei gleichbleibend versteinertem Gesichtsausdruck einen ganzen Kosmos an Empfindungen zu evozieren. Doch die Coppa Volpi für den besten männlichen Darsteller ging in diesem Jahr an Ben Affleck, der in Allan Coulters „Hollywoodland“ einen müde gewordenen Superman-Darsteller gibt.

Die Vielfalt der Preisverleihung spiegelt die Qualität der diesjährigen Biennale. Es gab so viele sehenswerte, anregende, herausfordernde Filme wie seit langem nicht mehr. Hatte man vor einem Jahr noch den Eindruck, die Filmemacher blieben die Antwort auf die Fragen der Gegenwart schuldig oder stellten sie nicht einmal, während die Videokünstler auf der Kunstbiennale die Zeitgenossenschaft anstrebten und erreichten, bilden die von Marco Müller und dessen Auswahlteam programmierten Filme in diesem Jahr einen erfrischend gegenwärtigen, lebendigen Kinokosmos. Die Infrastruktur am Lido liegt darnieder? Es gibt keinen nennenswerten Filmmarkt? Marco Müller hat angekündigt, seinen Job nur noch im nächsten Jahr machen zu wollen? Rom etabliert ein Konkurrenzfestival?

Wen schert all das angesichts der Güte des Programms? Was kümmert es, solange man Filme wie Garin Nugrohos furiose Aktualisierung von Gamelan- und Mozart-Oper, „Opera Jawa“, Mahamat-Saleh Harouns Postbürgerkriegsdrama „Daratt“ („Dry Seasaon“), Spike Lees Dokumentation „When the Levees Broke. A Requiem in Four Acts“ oder Johnnie Tos Triadenspektakel „Fangzhu“ („Exiled“) zu sehen bekommt? Die lästigen Realitäten und stumpfen Sachzwänge werden sich früh genug wieder bemerkbar machen. Im Augenblick aber scheint die Sonne hell über dem Lido von Venedig, und man kann die 63. Mostra internazionale d’arte cinematografica nicht anders denn als Erfolg feiern.