Kein Platz für falsche Adjektive

Der Politikwissenschaftler Georg Fülberth bilanziert nüchtern die Geschichte der beiden Deutschlands. Dabei verzichtet er auf die üblichen antikommunistischen Pflichtübungen

Was Tony Judt mit seiner Nachkriegsgeschichte Europas vor kurzem für den ganzen Kontinent versuchte, unternimmt Georg Fülberth für Deutschland in West und Ost. Obwohl das vorliegende Buch – wie Fülberth selber schreibt – „in Teilen die bereits fünfte Auflage eines Textes (ist), der erstmals 1983 als schmales Heftchen mit dem Titel ‚Leitfaden durch die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland‘“ herausgekommen ist, wird ein fast ganz neu geschriebenes Werk vorgestellt.

Beim Schreiben hat sich Fülberth wohl einer alten Anekdote erinnert: Georges Clemenceau, der große französische Staatsmann vor und während des Ersten Weltkrieges, sagte einmal einem neuen Sekretär: „Einige Briefe werden Sie selber schreiben können. Wenn Sie ein Adjektiv verwenden wollen, fragen Sie mich vorher.“

Fülberth fragte gar nicht erst, sondern ließ die Adjektive fast ganz weg – und so kam ein fast sprödes, oft widerspenstiges Buch heraus, das die Verhältnisse in West und Ost ganz nüchtern, ganz unideologisch, ohne die meist üblichen antikommunistischen Pflichtübungen schildert. In vierzehn Kapiteln befasst er sich abwechselnd mit dem Westen und dem Osten, bis die so genannte Wiedervereinigung beide Teile zusammenführt. Der Leser kann sich fast blind darauf verlassen, dass Fülberth alle wichtigen Ereignisse unvoreingenommen berichtet – er ist weder parteiisch, noch nimmt er die DDR in Schutz. Schon im Vorwort, schreibt der Autor über die Zeit bis 1989 etwas, was man nicht oft genug sagen kann:

„Bis dahin schien die Existenz einer sozialistischen Gegenwelt zum Kapitalismus dessen Expansion und innere Ungehemmtheit zu verhindern. Im Umkehrschluss musste angenommen werden, dass er seine zerstörerischen Potentiale nach dem Verschwinden dieser Gegenwelt wieder voll würde ausleben können.“

Und: „Das Grundgesetz legt sich auf keine bestimmte Eigentumsordnung fest, innerhalb seines Rahmens ist sowohl eine kapitalistische als auch eine sozialistische Gesellschaft möglich“ – aber wenn heute ein RAF-Lebenslänglicher etwas gegen den Kapitalismus sagt, gilt er als besonders gefährlich und kann auch nach 24 Jahren nicht begnadigt werden.

Während Westdeutschland vor allem von den Amerikanern durch den Marshall-Plan für den Kalten Krieg aufgepäppelt wurde, stand die „Zone“, „die so genannte DDR“, vor dem Problem, keine Grundstoffindustrie und eigene Energiebasis zu haben und einen erheblichen industriellen Reparationsabbau zu erleben. Da der Westen, vor allem die Bundesrepublik, von Anfang an nichts anderes im Sinn hatte, als die DDR untergehen zu sehen, kann man sagen, dass sie in Wahrheit nie eine wirkliche Überlebenschance hatte.

Wer indes nicht vor dem Bau der Mauer aus dem Land gegangen war, konnte sich danach einem Arrangement, ja einer zumeist nur begrenzten Identifikation mit der DDR nicht mehr entziehen, die sich nach 1961 für ein gutes Jahrzehnt auch etwas konsolidierte, während sich in Westdeutschland die jungen Leute gegen Restauration, die alten Nazis in wichtigen Positionen und den Vietnamkrieg zu wenden begannen. Fülberth sagt: „Erst auf längere Sicht ist der reale historische Ort der Studierendenbewegung sichtbar geworden: als Ausdruck einer sozialstrukturellen Verschiebung.“

Fülberth verschweigt nicht die unglaublichen Schattenseiten der DDR, die Gesinnungskontrolle und Unterdrückung einer durch Hilflosigkeit und sowjetische Rückendeckung immer aggressiver werdenden Staatsführung. Doch er rückt auch viele Klischees zurecht, die sich in westdeutschen Köpfen festgesetzt hatten – und dort bis heute überleben. Fülberth ist auch sicher, dass die Massenabwanderung im Sommer 1989 und nach dem Fall der Mauer „zeigte, dass diejenigen, die in ihren Verlautbarungen auf Kundgebungen und später am Runden Tisch die interne Reform einer fortbestehenden DDR forderten, in Wahrheit eine kleine Minderheit waren“.

Deutschland, so sagt der Autor, werde nur noch „als eine Region innerhalb des Kapitalismus“ vorkommen: Aus kapitalistischer Nationalgeschichte wird kapitalistische Regionalgeschichte geworden sein.“ Und er warnt durch ein in der Tat bemerkenswertes Zitat aus der Kriegsziel-Denkschrift des Reichskanzlers Bethmann Hollweg von 1914, das nicht mehr vielen präsent sein wird.

Neben natürlich vielen Annexionswünschen kann man dort lesen: „Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa stabilisieren.“ Das sollten viele zweimal lesen und ein wenig nachdenken. Die „Welt-AG“ lässt grüßen. HEINRICH SENFFT

Georg Fülberth: „Finis Germaniae. Deutsche Geschichte seit 1945“. PapyRossa Verlag, Köln 2007, 318 Seiten, 19,90 Euro