Große Ferien

Eine Sommererzählung

ANGELIKA KLÜSSENDORF, geb. 1958, lebt als Schriftstellerin in Berlin. Ihre Bücher erscheinen im Fischer Verlag, zuletzt der Roman „Alle leben so“ (2001) und der Erzählungsband „Aus allen Himmeln“ (2004). – Die hier veröffentlichte Erzählung ist ein Erstabdruck, exklusiv in der taz.

VON ANGELIKA KLÜSSENDORF

Der Heimweg zog sich hin, es war heiß, mindestens siebenunddreißig Grad im Schatten. Das Schneidegras, so nannte Alex die scharfen, hohen Halme, hinterließ feine Schnitte an seinen Waden. Heute war der letzte Schultag. Er kam gerade vom Basketball, wegen der Hitze hatten sie das Spiel vorzeitig beendet. Er kniff die Augen zusammen und starrte so lange in die Sonne, bis ein gleißendes, zuckendes Geflimmer hinter seinen Lidern entstand.

Alex starb fast vor Durst, als er an der Reklametafel vorbeikam, die eine trinkende Frau zeigte. Seine Schultern und Arme schmerzten, in seinem Rucksack befanden sich die Bücher des gesamten Schuljahres. Neben ihrem Haus, einem Reihenhäuschen an einer der großen Ausfallstraßen der Stadt, lag ein Stück verwildertes Brachland ohne Zaun; früher hatte er sich oft vorgestellt, dass dort Gespenster ihr Unwesen trieben.

Er schloss leise die Haustür auf und ließ im Flur den Rucksack zu Boden gleiten. In der Küche öffnete er so lautlos wie möglich den Kühlschrank, setzte eine kalte Flasche Cola an und trank.

„Na so was, du bist ja schon da.“ Die erstaunte Stimme seiner Mutter erklang hinter ihm. Er hatte es wieder nicht geschafft, sich an ihr vorbei in sein Zimmer zu schleichen.

„Hab’ keinen Hunger.“

Er drehte sich zu ihr, ohne sie anzusehen. „Wirklich“, sagte er.

„Jeder Mensch muss essen, auch du, mein Herzchen.“ Ihr Tonfall gab ihm zu verstehen, dass sie ihn niemals ohne Essen in sein Zimmer entlassen würde.

Er mochte es nicht, wenn seine Mutter ihn Herzchen nannte. Mit seinen vierzehn Jahren war er schon einsneunundachtzig groß, wog aber nur siebenundvierzig Kilo. Er setzte sich an den Küchentisch, beugte sich nach unten und kratzte die Schnitte an seinen Waden.

„Kratz nicht so“, sagte seine Mutter, „nimm den Mückenstift.“

Er versuchte ihr gar nicht erst zu erklären, dass es keine Mückenstiche waren.

Seine Mutter war schwanger, sie trug das Ergebnis einer leidenschaftlichen Nacht im Bauch, das jedenfalls waren ihre Worte gewesen, als sie mit einer Freundin telefonierte. Gerd, der trockene Alkoholiker und ihr letzter Favorit auf den Stiefvaterposten, hatte sich sofort verkrümelt, als er von seinem Vaterglück erfuhr.

Beim Essen starrte er zum Fenster, ohne die draußen vorbeidonnernden Laster zu sehen. Das Fensterglas vibrierte, und seine Mutter erzählte ihm gerade eine Episode aus ihrer Lieblingsserie, und ihre Stimme klang zärtlich und gefühlvoll. Er hatte keine Ahnung, worüber sie sprach, eigentlich wollte er nur in sein Zimmer.

„Ich hab’s vorausgesehen“, beendete sie ihren Monolog, „aber manche begreifen nie, wenn was vorbei ist.“

Er hätte sie nun fragen können, was vorbei sein sollte, aber die wenigen Fragen, die er ihr stellte, beschränkten sich auf einfache Dinge: ob sie mit ihm nach Adlershof fuhr, um bei Burger King mit ihm zu essen, oder wann er endlich neue Sportschuhe bekommen würde. Sie fuhr immer mit ihm zu Burger King, weil es eine Chance für sie war, mit ihm das Haus zu verlassen, und das war seit einiger Zeit das Wichtigste für sie.

Er wusste nicht mehr genau, wann das alles begonnen hatte. Anfangs hatte er sich nichts dabei gedacht, als sie ihn immer beim Einkauf dabeihaben wollte, sie könne allein nicht so viel Zeug schleppen, hatte sie erklärt, aber dann sollte er auch mit zum Friseur, in die Gärtnerei, zu ihrer Frauenärztin. Sie ins Schwimmbad zu begleiten war ihm unglaublich peinlich gewesen, seine Freunde hatten gesehen, wie er ihr den Rücken eincremte, und nicht nur das, sie hatte geweint und ihre Schminke war verlaufen.

„Gehst du nochmal raus?“ Seine Mutter fuhr mit ihrer Hand über seinen Kopf, den er schnell wegzog.

„Keine Ahnung, vielleicht ins Kino.“ Er stand auf und brachte den Teller zur Spüle.

Seine Mutter öffnete das Fenster und schloss es gleich wieder.

„Wahnsinn“, sagte sie, „was für eine mörderische Hitze.“

Auf der Rückseite ihrer Bluse sah er einen Fleck. Alex überlegte, ob er es ihr sagen sollte. Er ging in sein Zimmer, fuhr den Computer hoch, hörte durch die Wand ein albernes Kichern und dann die Stimme seiner Mutter, die mit einem verächtlichen Schnauben die Fernsehszenen laut kommentierte. Sie wusste in letzter Zeit immer weniger mit sich anzufangen. Sie bekam kaum noch Besuch von ihren Freundinnen, sah den ganzen Tag fern, putzte und kochte. Dabei summte sie Lieder aus ihrer Jugend, führte Selbstgespräche und überlegte sich wahrscheinlich die nächste Begründung, warum er sie wieder irgendwohin begleiten sollte. Alex durchschaute sie, natürlich würde sie das neueröffnete Delikatessengeschäft auch ohne ihn finden. Aber seine Mutter brauchte ihn, weil sie unter einer Phobie litt. Er hatte eine Sendung über Phobien gesehen. Angst vor Spinnen gab es, vor Dunkelheit, vor Hühnern, Männern, Frauen, es gab sogar die Angst, dass Erdnussbutter am Gaumen klebenbleibt, oder die Angst vor Deutschland, die sogenannte Germanophobie – er hatte darüber gelacht, bis ihm mehr oder weniger das Lachen im Hals steckengeblieben war: Seine Mutter hatte Angst, das Haus allein zu verlassen.

Seine Eltern waren vor fünf Jahren geschieden worden, seinen Vater sah er selten. Vor gut einem Jahr hatte er ihn in Hamburg besucht, seitdem hatte es nur ein paar Telefongespräche gegeben, mit den immer gleichen Fragen nach seinen Schulnoten und dem Wetter. Bei seinem letzten Besuch hatte Alex durch einen Zufall eine leidenschaftliche Seite seines Vaters kennengelernt. Er hatte ihn frühmorgens vor einem Computerspiel überrascht, und sein Vater hatte die Augen kein einziges Mal vom Bildschirm genommen, auch nicht, als er ihm das Spiel erklärte, obwohl Alex es seit langem kannte. Es war ein Onlinespiel, und gegen eine monatliche Gebühr konnte jeder mitspielen. Auf einem Phantasiekontinent bekriegten sich in immer neuen Formationen gegnerische Mächte. Sein Vater war ziemlich aufgekratzt gewesen, hatte sich aus der Brusttasche seines Hemdes eine zerknautschte Zigarettenschachtel geholt, die aussah, als hätte er darauf geschlafen. In einem kurzen euphorischen Anfall verriet er ihm sogar seinen Spielernamen, Aton, danach hatte er wieder auf den Bildschirm gestarrt, als würde sich ihm dort eine nur für ihn entschlüsselbare Botschaft offenbaren. Alex war von dieser Begeisterung verwirrt. Glaubte sein Vater etwa das, was er da vor sich sah? Aber was wusste er schon über seinen Vater. Er hatte keine Ahnung, was in seinem Kopf vor sich ging. Alex hatte seiner Spielerfigur den Namen Blizzard gegeben, aber das sagte er ihm nicht. Beim Abschied hatte ihn sein Vater vor diesem Spiel gewarnt, dort sei alles gefährlich und nicht kontrollierbar.

Sein Vater war Dirigent in einem Rundfunkorchester, und er kam jede Nacht gegen elf nach Hause. Das wusste Alex, denn er beobachtete auf seinem Bildschirm, wie Aton täglich um diese Zeit versuchte das Spiel aufzumischen. Sein Vater war kein souveräner Spieler, überhaupt nicht der Ausgebuffte, für den er sich hielt. Er unterschätzte häufig die Gefahr und war durchschaubar in seinen Täuschungsmanövern.

Im Augenblick bevorzugte Alex allerdings den Flugsimulator, flog von Peking nach Moskau, landete auf der kleinsten Insel des südlichen Pazifiks oder machte einen Abstecher nach Mallorca, wo er früher einmal die Sommerferien verbracht hatte. Er befand sich mit seiner Cessna gerade auf dem Landeanflug, als ihn die Stimme seiner Mutter in die Wirklichkeit zurückholte. Sie rief ihn zum Abendessen. Alex hatte keinen Hunger, aber er speicherte den Spielstand und ging in die Küche.

Sie hatte den Tisch im Wohnzimmer gedeckt, weil nun die Ferien begannen. Der Fernseher lief ohne Ton. Der Tisch war überfüllt mit Opfergaben, die ihn, wie er spürte, besänftigen sollten, gebratene Hühnerflügel, Pommes, eine Schüssel Krautsalat, sie hatte sich offensichtlich große Mühe gegeben. Er mochte es nicht, wenn sie sich Mühe gab.

„Schmeckt die Mayonnaise, Herzchen?“, fragte sie.

Er nickte und versuchte sich so zu drehen, dass er was von dem „Katastrophenkram“ im Fernsehen mitbekam.

„Gehst du heute noch ins Kino?“

„Keine Ahnung“, entgegnete er, und sein Tonfall deutete an, dass er die Antwort am liebsten offenlassen würde, bis ans Ende ihrer Tage.

„Was läuft denn?“ Sie blickte über seinen Kopf hinweg an die Wand hinter ihm.

Er zuckte mit den Schultern, dann versuchte er laut zu rülpsen, indem er immer wieder Luft verschluckte, aber er brachte nur einmal einen vollen Sound zustande.

Sie wiederholte die Frage, und ihre Stimme klang jetzt angestrengt und irgendwie gefährlich.

„Ich weiß es nicht“, sagte er, und während er den Bildschirm fixierte, versuchte er beiläufig aufzustehen.

„Du hast kaum was gegessen“, sagte sie, nahm schnell seinen Teller und füllte ihn mit Pommes und einem großen Klecks Majo. „Du bist zu dünn.“ Sie gab ein Geräusch von sich, das wie Lachen klingen sollte.

Er setzte sich wieder, dachte an seinen Vater, der ihn hier einfach mit dieser Frau hatte sitzen lassen, mit dieser Frau, die er nicht verstand, und die auch ihn niemals verstehen konnte.

„O mein Gott, hab’ ich Lust auf eine Zigarette“, sagte sie und erhob sich. Sie öffnete das Fenster und sah kurz nach draußen in die Sommerluft. Dann ließ sie sich auf dem Sofa nieder und fächelte sich mit der Fernsehzeitung Luft zu.

Er versuchte sich an das Kinoprogramm von dieser Woche zu erinnern. Seine Mutter sah sich sogar Filme an, die sie nicht mochte. Sie tat alles, um mit ihm rauszukommen.

„Wollen wir spazierengehen?“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und versuchte ein Lächeln.

Es war erstaunlich, wie schnell sie umschwenken und wieder freundlich sein konnte.

„Es ist doch schön draußen, was meinst du?“

Jeder Satz schien ihrem Gefühlsnetz unterworfen, wie sollte er da bloß einen Durchblick haben. Ja, sagte er kapitulierend, von mir aus, er war fertig mit diesem Abend.

Sie räumte den Tisch ab, während er auf den Bildschirm starrte und mit seinen Fingernägeln über die leicht verschorften Schnitte an seinen Waden kratzte. Sie summte vor sich hin, freudig und gelöst, endlich aus der Spannung entlassen, in der sie sich seit dem frühen Morgen befand.

„Herzchen, würdest du bitte?“ Sie stand jetzt vor Alex und reichte ihm ihre Perlenkette, drehte ihm den Rücken zu und hob mit der Hand ihr Haar. Er hörte sie atmen und sah, dass sie trotz der Schwangerschaft mager war, die Knorpel ihrer Wirbelsäule standen ab wie kleine Höcker. Er legte ihr die Kette um den Hals und verhakte die beiden Enden des Verschlusses.

Sie strich ihr Kleid glatt und drehte sich mit ausgebreiteten Armen vor ihm im Kreis.

„Von mir aus können wir“, sagte sie, nahm die Strickjacke vom Sofa, legte sie aber gleich wieder hin. „Ist viel zu warm“, sie kicherte spöttisch und sah ihn an.

Alex schloss die Augen, und einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie er in einem Kampfjet über ihr Haus flog und einen Bombenhagel darauf niedergehen ließ, bis jeder Stein und alles Leben zerstört war.

„Alex, hörst du mich?“ Ihre Stimme klang, als bedürfe sie seines Schutzes.

Es war noch hell und heiß auf der Straße. Die Sonne stand tief an dem klaren Himmel. Ein klammer Fischgeruch lag in der Luft, seine Mutter trug eine Handtasche, die sie sich kürzlich auf dem Flohmarkt gekauft hatte, ein Krokoimitat. Sie kamen an der Schule vorbei und an dem riesigen Supermarkt, auf dessen Parkplatz immer noch Autos und geschäftige Menschen mit vollgestopften Plastiktüten zu sehen waren. Neben dem Krankenhaus lag das stillgelegte Armeegelände, wo er oft mit seinen Freunden nach Schulschluss zwischen verrosteten Eisenbetten und Spinden herumgespielt hatte. Vergangenen Herbst hatten sie dort eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt und eine Riesenaufregung verursacht, in den Zeitungen waren sogar Fotos von ihnen zu sehen gewesen.

„Dort werde ich bald sein“, sagte seine Mutter und deutete auf die Fenster des Krankenhauses. „Wenn alles gut geht, in genau …“, sie nahm die Finger zu Hilfe und zählte „in genau vierzehn Tagen“.

„Wird schon alles gutgehen“, sagte er, „du wirst es überleben.“

„Von Sterben hab ich nicht gesprochen“, sagte sie mit flachem Atem. „Du bist manchmal so …“

„So sensibel?“, vervollständigte er ihren Satz.

In ihren Augen blitzte ein heiteres Funkeln auf, aus irgendeinem Grund freute sie sich über seine Entgegnung.

„Sensibel, ja, das ist richtig, und du bist toll, mein Herzchen, mein großer Beschützer, was würde ich ohne dich tun. Es ist manchmal nicht einfach mit mir, oder?“

Er musste sich nicht auf eine Antwort festlegen, zumal sie schon weitersprach, ihm schon wieder seine eigene Geburt beschrieb, das Horn an seinem Hinterkopf, weil er mit einer Saugglocke aus ihr herausgeholt werden musste, sein erster Schrei, der mit ihrem endlich nachlassenden Schmerz zusammenfiel.

Als sie am Alicante vorbeikamen, musste sie dringend auf die Toilette, und da sie nun schon hier waren, wollte sie sich auch gleich ein Gläschen genehmigen.

Alex setzte sich auf einen Hocker am Ende der Theke. Als sie wiederkam und umständlich neben ihm Platz nahm, wandte sie sich an den Barmann und bestellte eine Cola und ein kleines Glas Rioja.

„Die spanischen Weine sind einfach gut“, sagte sie und sah sich im Raum um. Ein paar Hocker weiter saß ein dicker Mann zwischen drei Frauen und lachte laut, die weißgedeckten Tische im Nebenraum waren unbesetzt.

„Schön hier, oder?“ Sie betrachtete sich mit zu Schlitzen verengten Augen, im Spiegel hinter der Bar und klopfte mit den Fingern im Takt der Salsamusik. Sie trank in kleinen Schlucken, bis ihr Glas leer war, und auf ihr Gesicht trat ein verträumter Ausdruck. Sie bestellte Salzstangen zu ihrem zweiten Rioja und noch eine Cola für ihn, mit extra klein gestoßenen Eiswürfeln, obwohl er nichts dergleichen geäußert hatte.

Dann sagte sie eine ganze Weile nichts, es schien, als würde sie dem Gespräch lauschen, das der dicke Mann mit den drei Frauen führte.

Schließlich begann sie von ihrem letzten Liebhaber zu erzählen. Alex versuchte wegzuhören, ihre Worte auszublenden, er sah ihre Iris dunkelblau werden, fast so dunkel wie ihre erweiterten Pupillen, auf denen sich das letzte Tageslicht spiegelte, und er begann auf der Oberfläche ihres Blickes eine Luftschlacht auszutragen, in der die abstürzenden Kampfjets tiefe Krater hinterließen; die geplatzten Äderchen zogen sich über das gesamte Weiß ihrer Augen. Irgendwann schüttelte sie den Kopf, und er bemerkte ihr rotes Gesicht, sie hustete. Sie drehte ihm den Rücken zu, auf den er mit seinen Händen klopfte, bis sie sich beruhigte.

„Krümel in der Luftröhre“, japste sie und drehte sich wieder zu ihm. „Vielleicht interessiert es dich, dass ich gestern Abend mit deinem Papi telefoniert habe“, fuhr sie übergangslos fort. „Er hat einen Gastauftritt in Südkorea, glaube ich, er dirigiert schon wieder Beethovens Neunte, als ob es nichts anderes gäbe.“

„Er hat dich angerufen?“, fragte er.

„Ja, hab ich doch gesagt.“ Sie gähnte und sah sich um.

„Und wann?“, fragte Alex.

„Weiß ich nicht mehr.“ Sie zog die Schultern hoch, als hätte es keine Bedeutung, und summte vor sich hin.

„Gegen elf?“ fragte er.

„Kann sein, ja.“ Sie sah ihn kurz an. „Warum fragst du?“

Er zuckte mit den Schultern, nahm sein Glas und versuchte mit den viel zu kleinen Eiswürfeln zu klirren.

Seine Mutter sprach immer noch von seinem „Papi“, was er noch schlimmer fand, als wenn sie ihn Herzchen nannte. Erst gestern hatte er seine Spielerfigur Blizzard an die seines Vaters geheftet und war ihr über unzählige Berge und gefährliche Schluchten gefolgt. Alex unterdrückte den Impuls, seiner Mutter zu sagen, dass die einzigen Orte, die sein Vater in letzter Zeit tatsächlich bereist hatte, nicht auf der Weltkarte verzeichnet waren. Seine Mutter summte lauter und wippte mit dem Fuß. Der Barmann stand jetzt bei dem dicken Mann und den drei Frauen.

„Zahlen“, rief sie laut durch den Raum.

Ohne auch nur den Blick zu heben, redete der Barmann weiter auf den dicken Mann ein. Seine Mutter schüttelte missbilligend den Kopf und verdrehte die Augen. Schließlich gab sie Alex das Geld und sagte, sie müsse raus an die Luft.

Während Alex auf das Wechselgeld wartete, sah er seine Mutter draußen von einem Bein auf das andere hüpfen, die Arme um sich geschlungen, als wäre ihr kalt.

Als er schweigsam und mit schnellen Schritten neben ihr lief, sah sie aus, als wäre sie von ihrem Ausflug enttäuscht.

„Der Wein war doch nicht so gut“, bemerkte sie missvergnügt, als sie die Haustür aufschloss, „schmeckte irgendwie korkig.“ Sie räusperte sich. „Ich könnte mich auf der Stelle übergeben.“ Sie schloss die Tür, lehnte sich dagegen und betrachtete ihn. „Ich trink dort nie wieder was“, sagte sie und zog die Stirn kraus. Dann ging sie ins Wohnzimmer, stellte den Fernseher an und legte sich auf das Sofa. Alex nahm sich eine Flasche Cola mit in sein Zimmer, und als er ans Fenster trat, hing der Mond in der Farbe einer gefleckten Eierschale tief über den Dächern. Er fuhr den Computer hoch, wählte den Server und das Bild baute sich auf. Dann tippte er den Spielernamen seines Vaters in die Kontaktliste und fand Aton am Rande einer Eiswüste. Blizzard hängte sich an Atons Fersen und schlitterte ihm auf einem Lichtstrahl hinterher, durch die unendlichen Weiten des Alls. Als er ihn im Regenwald vor einer Wurfschlinge rettete, drehte sich Aton nach ihm um, und auf dem Bildschirm erschien der dunkelrote Schriftzug: „Wer bist du?“

„Ein guter Spieler“, ließ Alex Blizzard antworten.

Aton entfernte sich, und der Augenblick ging vorüber, ohne dass Alex ihn genutzt hatte. Eigentlich wollte er seinem Vater etwas sagen, aber er wusste nicht, was. Er sah aufmerksam auf den Bildschirm, sein Herz fühlte sich an, als würde es zerspringen. Aton wandte ihm den Rücken zu und entfernte sich durch einen Tunnel aus Licht. Mit einem erstickten Laut in der Kehle nahm ihn Alex ins Visier und schoss ihm mit Blizzards MG erst in die Beine, und als Aton sich umdrehte, zerfetzte er ihm mit mehreren Salven das Gesicht.

Als er sich schlafen legte, kreischten schon die ersten Vögel durch die weit geöffneten Fenster. Er liebte die Geräusche außerhalb des Hauses, den Nachhall der quietschenden Bremsen vor der Ampel, den Wind in den Bäumen, prasselnden Regen und Hundegebell.

Aus irgendeinem Winkel des Hauses drang ein leises Schluchzen zu ihm, aber er war sich nicht sicher, es konnte auch eine Art Schluckauf sein. Die Geräusche innerhalb des Hauses erfüllten ihn mit Unbehagen, das Summen des Kühlschranks, sein eigener Atem, das Ticken des Weckers, die Schritte seiner Mutter auf den Dielen.