Im Palast der Fantasie

Die Kestner-Gesellschaft in Hannover begeht ihr 75-jähriges Jubiläum mit Imi Knoebels Ausstellung „Pure Freude“. Der Kunstauffassung der Nazis hatte der Verein sich in den Dreißigerjahren verweigert

von HARALD FRICKE

Städte brauchen Kultur für ihr Marketing. Das ist nichts Neues, deshalb hat West-Berlin schon in den Siebzigerjahren auf Postern mit dem Kopf der Nofretete geworben, deshalb ist nach der Weltausstellung 1889 der Eiffelturm in Paris stehen geblieben, als Schmuckstück für den Tourismus. Wenn sich das Verhältnis aber umkehrt, wird es merkwürdig. So wie in Hannover. Dort weiß keiner etwas mit der zur Expo 2000 komplett aufgehübschten City anzufangen.

Außer den Kulturschaffenden. Carl Haenlein jedenfalls ist begeistert, dass demnächst noch das Ver.di-Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite fertiggestellt ist. Im Zusammenspiel mit dem Anzeigerhochhaus am Steintor wird sich dann eine ganz neue, ganz erstaunliche Achse ergeben, die auch das ehemalige Goseriedebad mit einbezieht, in dem seit dem Umbau 1997 die Kestner-Gesellschaft untergebracht ist.

Natürlich darf sich Haenlein über die architektonische Einbindung des Hauses freuen, schließlich ist er dort Direktor des renommierten Kunstvereins. Trotzdem wirkt sein Lob der Symmetrie wie eine Verbeugung vor den Developpern, die zum 75-jährigen Jubiläum der Kestner-Gesellschaft gar nicht nötig wäre.

Im Jahre 1916 wurde die Institution von gut betuchten Großbürgern und Kunstliebhabern als Ausstellungshaus für das 20. Jahrhundert gegründet. Schnell etablierte sich die Kestner-Gesellschaft mit zeitgenössischer Avantgarde, zeigte August Macke oder Paul Klee, bevor sie zu festen Museumsgrößen wurden. 1936 kam das Aus mit den Nationalsozialisten. Sie drängten auf die Absetzung des damaligen Direktors Justus Bier, weil er jüdischer Herkunft war. Der Vorstand reagierte auf die Zumutung – und machte das Haus ganz dicht: Eine Kollaboration mit den Nazis gab es nicht. Bier gelang die Flucht über die Schweiz nach Amerika.

Insofern sind die Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag auch Ausdruck einer Beschädigung. Die Zeit der Diktatur zählt für Haenlein nicht, nur so kommt er auf die 75 Jahre. Damit steht seine Chronologie allerdings im Widerspruch zu seinem Vorgänger Wieland Schmied, der 1966 die ersten 50 Jahre zum Anlass für eine umfangreiche Monografie genommen hatte. Überhaupt scheint Haenlein sich selbst mit dem Jubiläum ein Denkmal setzen zu wollen. Seit 1974 ist er Leiter des Hauses, hat Georg Baselitz oder Jörg Immendorff solo gezeigt und mit einer Warhol-Show Sinn fürs Spektakel bewiesen.

Ende des Jahres wird Haenlein gehen, nach 28 Dienstjahren, und von Veit Goerner als Nachfolger beerbt werden. Für den Kurator, der zuvor am Kunstmuseum Wolfsburg unter anderem für die marktkonforme „German Open“-Präsentation verantwortlich war, ist das eine auch kulturpolitisch weit über Hannover hinausragende Schaltstelle. Schließlich sind Ausstellungen im Haus weniger an bestehenden Trends orientiert, sondern an einzelnen Positionen. Das schafft natürlich enorme Aufmerksamkeit für Einzelkämpfer, die sich auch in deren Marktwert widerspiegeln dürfte.

Imi Knoebel, dessen neuste Bilder zum Jubiläum im Obergeschoss der Kestner-Gesellschaft zu sehen sind, hat diesen Punkt in seiner Karriere längst überschritten. 1987 war der Maler auf der documenta 8 vertreten, 1996/97 tourte eine Retrospektive seiner Arbeiten zwischen München, Amsterdam, Valencia und Düsseldorf, wo er seit Mitte der Sechzigerjahre lebt. Damals studierte der 1940 in Dessau geborene Knoebel bei Joseph Beuys, ohne sich allzu sehr für dessen Performances und Aktionen zu interessieren. Während Beuys von der Malerei weg wollte, suchte Knoebel genau danach: Was ist ein Bild?

Die Antwort kam nach reichlicher Überlegung. Zunächst einmal mussten 250.000 Zeichnungen mit vertikalen Strichen angefertigt werden, die Knoebel allesamt in Schränken wegschloss. Danach stand für ihn fest: Eine Malerei ohne die Beschäftigung mit den Rahmenbedingungen von Malerei ist keine. Knoebels Atelier wurde zur Werkstatt, seine Vorgehensweise erinnerte mehr und mehr an Industriearbeit. Mittlerweile fertigen vier Angestellte rechteckige Platten und schmale Metallstreifen aus Aluminum als Bildträger. Knoebel selbst wählt aus Farbpaletten von über 200 Blau-, Gelb- und Rottönen fast konstruktivistische Kombinationen nach Art El Lissitzkys aus, schräge Violettwerte und grelles Pfefferminzneon sind bei ihm aber auch willkommen.

Auch gegenüber dem Suprematismus der reinen Farbe, wie ihn Malewitsch für den Fortschritt der Weltgeschichte propagierte, verhält sich Knoebel eher ironisch. Die Revolution der Malerei sieht in seinen Aluminiumbildern nach Schminkkoffer, Nachtbar und Autolackiererei aus. Oder nach Kinderzimmer, wie in den neueren Arbeiten, von denen ein halbes Dutzend eine Halle der Kestner-Räume füllen. Keine Pastellfarbe hat Knoebel ausgelassen, stets wimmelt es von psychedelischen Teletubby-Anklängen: das Ecstasy im Farbflash der späten Jahre.

Der Titel dagegen ist retro, eine Hommage an die frühen Achtzigerjahre. Damals war Carmen Knoebel Chefin des Ratinger Hofs, später betrieb die Frau des Malers das Punk-Label „Pure Freude“, auf dem Mittagspause oder S.Y.P.H. Platten veröffentlichten. Heute dürfte ein New-Wave-Slogan wie „Zurück zum Beton!“ ziemlich albern wirken, wenn man ihn neben Knoebels Tafelarrangements stellen würde, in deren monochromen Flächen sich manchmal das Außenlicht wunderbar metallisch reflektiert. Für Haenlein ist „Pure Freude“ ohnehin kein Punk, sondern nur mehr ein Motto, dass zum Jubiläum passt, so wie er bei Knoebels disziplinierter Malerei an einen „Palast der Fantasie“ denkt und überall farbrauschende Schönheit am Werk sieht. Auch vor der eigenen Tür. Dort haben künstlicher Marmor und Backsteinkitsch den Beton der 70er-Jahre verdrängt. Selbst in Hannover.

Imi Knoebel: „Pure Freude“; bis 3. 11., Kestner-Gesellschaft Hannover