die jazzkolumne
: Der Schrei des Soularfones

Peace and Happiness revisited

Der Sturz war heftig an jenem Morgen. Als er wieder zur Besinnung kam, fehlten ihm wichtige Zähne. Denn abends sollte er eigentlich singen. In einer New Yorker Kirche war ein Benefiz zugunsten von Opfern polizeilicher Maßnahmen angesetzt. Eigentlich ein ganz normaler Tag, Ende der 60er-Jahre. Pharoah Sanders, der Saxofonist, schaute mittags bei Leon Thomas, dem Sänger, vorbei. Sie wollten das Konzert nicht canceln. „Ich konnte nicht schmunzeln, ich konnte kaum meinen Mund öffnen“, gab Thomas später zu Protokoll. Und abends pochten die Schmerzen. Dann war er an der Reihe, und eigenartige Laute kamen aus ihm heraus: „Aus ganz tief drinnen, als würden meine Vorfahren sich in Form eines ungewöhnlichen Sounds zurückmelden, als würden sie durch mich hindurchsingen, ohne dass ich meine Lippen bewegen müsste.“

Auch Eddie Harris jodelte gelegentlich, aber Leon Thomas entwickelte daraus ein eigenes Genre der neueren Jazzgeschichte. Da er seine Stimme wie ein Instrument einsetzen konnte, war er der ideale Sänger für große Individualisten in einer Zeit, als Visionäres und Ideologisches weit höher im Kurs standen als Handwerk und Bedienungsanleitungen. Zur späten Hymne des New Thing in Jazz wurde die 1969er-Impulse!-Session „Karma“, eine Pharoah Sanders Platte mit Leon Thomas und deren über dreißigminüte Version von „The Creator Has A Masterplan“. Leon Thomas nannte seine Jodeltechnik Soularfone, das korrespondierte mit einer irdisch diesseitigen Hoffnung auf eine bessere Welt, wie sie in den schwarzen Kirchen Amerikas zelebriert wird, sowie mit der Vergewisserung einer Black-and-Proud-Adaption von afrikanischer Hochkultur. Seine Vokalimprovisationen klangen der Mokambi-Technik südwestafrikanischer Stämme ähnlich.

Der erste „Mann auf dem Mondgang“ brachte zudem die Spirits kräftig in Bewegung, kaum ein ernst zu nehmender Jazzsong jener Tage, der nicht „Peace and Happiness“ proklamierte oder das Universum feierte, als würden sich von hier aus die ersehnten Impulse für eine gerechtere Welt einen Weg bahnen. Während Soul in der Jazzsprache ja die Fähigkeit eines Musikers meint, mit Blues und Feeling improvisieren zu können, ist mit Soul auch das originär Amerikanische der afroamerikanischen Kultur bezeichnet: Der versklavte afrikanische Prinz lernte erst auf dem amerikanischen Kontinent mit Soul zu singen, so geht die Legende. „Prince of Piece“, ein weiterer und später gern gesampelter Klassiker aus der Sanders-Thomas-Connection, ist unter dem Titel „Hum-Allah-Hum-Allah-Hum Allah“ auf der Sanders-CD „Jewels of Thought“ wiederveröffentlicht worden. Diese Aufnahme fand im Oktober 1969 in New York City statt.

Bis heute reagiert Pharoah Sanders empfindlich auf die Frage, wer von beiden nun der eigentliche Creator vom „Masterplan“ war. Darüber gab es Streit und Zerwürfnis. Gerade sind nun bei RCA Victor zwei Leon-Thomas-Klassiker auf CDs wiederveröffentlicht worden, auf denen es auch verschiedene Versionen von „The Creator Has A Masterplan“ gibt. „Spirits Known And Unknown“ heißt eine Session vom Oktober 1969, bei der der aus Arkansas stammende Pharoah Sanders aus vertragsrechtlichen Gründen unter dem Pseudonym „Little Rock“ mitwirkte. „Leon Thomas in Berlin“ dann ist ein Konzertmitschnitt aus der Philharmonie von den Berliner Jazztagen im November 1970, wo Thomas mit einer deutschamerikanischen Festivalband unter Leitung von Oliver Nelson auftrat. Gelegentlich spielte Thomas auch hindewe, afrikanische Flöten, wie hier bei „Oh-wee!! Hindewe“ in der Berliner Philharmonie. Als Bonustrack ist ein Mitschnitt von einer Veranstaltung des SNCC (The Student National Coordinating Committee) aus dem New Yorker Fillmore East vom März 1970 angefügt, „Damn Nam (Ain’t Going To Vietnam)“.

Eine obskure Ausnahme in der Leon-Thomas-Diskografie bleibt die 1970 erschienene und vergriffene Platte, „SNCC’s Rap“, die am deutlichsten sein Engagement für Black Power und Consciousness dokumentiert, als Co-Leader trat hierbei der umstrittene schwarze Bürgerrechtler H. Rap Brown auf, der den größten Teil seines Lebens im Knast oder auf der Flucht verbrachte. Einige Jahre später war Thomas mit Santana auf Tour, dann wurde es still um ihn. Gelegentliche Auftritte als Bluessänger und kleine Gastauftritte im Jazzkontext leiteten eine lange Pause ein. Nur gelegentlich trat er noch mit seiner „Blueswing“-Band auf und sang die Klassiker „Sun Song“, „Prince of Peace“ und „The Creator Has A Masterplan“. Im Mai 1999 wurde Leon Thomas, 61-jährig, in seiner Heimatstadt East. St. Louis, Illinois, beerdigt, am 8. Mai war er an Herzversagen als Folge einer Leukämie-Erkrankung gestorben, abends zuvor hatte er noch in einem Club in seiner Brooklyner Neighborhood gesungen.

Bei zahlreichen Aufnahmen mit Pharaoh Sanders und Leon Thomas war der Pianist und Keyboarder Lonnie Liston Smith dabei, dem im Schatten des Organisten Dr. Lonnie Smith der Zugang zur Jazz-Community lange verschlossen blieb. Zwar machte er neben Sanders auch Aufnahmen mit Rahsaan Roland Kirk und Miles Davis, doch die ständige Gratwanderung zwischen Fake, Fusion und Future versaute das Image nachhaltig.

Erst vor einem Monat gab es für ihn, der sich auf seiner Website www.lovelandrecords.com fast schon flehentlich „Jazz man“ nennt, die späte Weihe, als ihn die Pianistin Marian McPartland in ihrer weit verbreiteten NPR-Sendung „Piano Jazz“ vorstellte – nun in der Kulisse des krawattigen Mainstreampianos. Als „God Father of Jazz Funk“ geht Lonnie Liston Smith diese Tage auch noch einmal auf Tour (5. 3. Hamburg, 7. 3. Minden, 8. 3. Berlin, 13. 3. München). Pharoah Sanders hingegen tauchte vor zwei Wochen im New Yorker Lincoln Center auf, um noch einmal seine große Rolle zu spielen – als spiritueller Provokateur. Wynton Marsalis hatte wichtige Kompositionen von John Coltrane für sein Lincoln Center Jazz Orchestra arrangiert und den ehemaligen Coltrane-Musiker Sanders für zwei Soli eingeladen, „Spiritual“ und „Africa“. Die New York Times kommentierte daraufhin, dass es Sanders für die Dauer von einer Minute gelungen sei, dem Marsalis-Publikum durch seinen gewaltigen Sound ein spürbares Unbehagen zu bereiten. Sanders spricht nicht, sein Saxofon jodelt und schreit „Peace and Happiness“.

CHRISTIAN BROECKING