Leistung lohnt nicht

Michael Hartmanns Studie beweist: Heute ist die klassenlose Gesellschaft der Leistungswilligen weniger real denn je

von ULRICH BRIELER

Jeder kann es schaffen, er muss es nur wollen. Wer nicht top ist, tut eben zu wenig – und wer die Welt von oben sieht, verdankt es seiner Leistungskraft. Ja, wir leben im Zeitalter der Leistungsbesten. Wie Pilze aus dem Boden schießen deshalb die Centers of Excellence und Business Schools, die Rankings und Wettbewerbe für die Ausscheidungskämpfe um den Platz an der Sonne. Universitäten und Schulen werden zu Arenen der Konkurrenz, bei den Kindergärten ist es bald so weit. Der Leistungsappell ist das Schmiermittel dieser neuesten Zustände.

Hohe Zeit also, die vordergründigen Phrasen des gängigen Elitediskurses mit der Frage zu konfrontieren, ob wirklich jeder, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, reale Aufstiegschancen hat. Genau das hat jetzt der Hannoveraner Soziologe Michael Hartmann in seiner Studie über den „Mythos von den Leistungseliten“ getan. Hartmann hat bereits vor einigen Jahren mit seinem Buch „Topmanager“ eine Phänomenologie dieser Herren vorgelegt, die das Selbstverständnis der deutschen Business-Master bloßlegte. Manch altlinkes Vorurteil ging dabei über Bord. Seit George Grosz hat sich das Gesicht der herrschenden Klasse erheblich gewandelt. Der typische Manager will kein Unmensch, kein Banause, kein Pfennigfuchser sein. Er ist hochgebildet, musisch veranlagt, verhaltenssensibel. Mit einem Wort: Er hat Stil und Klasse. In einem anderen Leben wäre er Philanthrop.

An diese Untersuchung knüpft Hartmanns neue Studie an. Sie dokumentiert eine Forschungsarbeit, in deren Mittelpunkt Ingenieure, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler stehen, die 1955, 1965, 1975 und 1985 promoviert haben. Es geht also um die Fächer, die mit weitem Abstand die Berufsqualifikationen der Elite beschreiben. Anhand von Biografien werden soziale Herkunft und berufliche Wege in die Spitzenetagen von Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz und Politik korreliert. Hartmann greift mit diesem Forschungsdesign die klassische Behauptung der Leistungsideologen auf, die in der Bildung das Sesam-öffne-dich-Prinzip der Chancen sehen. Hier soll gleich werden, was sozial ungleich ist. Hier soll jeder mit den Lebenschancen ausgestattet werden, die seinen Talenten entsprechen. Was für den Feudalismus die Belehnung mit Land, soll die Bildung für die Moderne sein – ein Eintrittsticket in das Reich der Möglichkeiten.

Um es vorwegzunehmen: Für den Freund wirklicher Demokratie ist das Ergebnis der Studie deprimierend. Die klassenlose Gesellschaft der Leistungswilligen ist nicht nur ein Wunschtraum, sie ist heute weniger real denn je. Eines der interessantesten Gründe hierfür: Die Elite kapselt sich zunehmend ein. Je mehr die Vorstandschefs und Manager ihre Erscheinung in der Echo-Öffentlichkeit der Medien pflegen, um so stärker verschließen sich die Spitzenpositionen für sozial Unberufene, die nicht den Vorteil der richtigen Kinderstube genießen.

Dieses ernüchternde Ergebnis gilt insbesondere für die Wirtschaftselite. Die promovierten Ingenieure, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler aus dem gebobenen und dem Großbürgertum haben, trotz identischer Bildungsvoraussetzungen, eine um 50 bis 100 Prozent größere Chance, in die Chefetagen der Großunternehmen aufzusteigen, als die Mitbewerber aus der Arbeiterklasse und den Mittelschichten. Dass dabei die Promotion weiterhin eine exklusive soziale Hürde darstellt, kommt verschärfend hinzu.

Etwas durchlässiger sind die Karrierechancen in der Politik, der Justiz und der Wissenschaft. Hier regiert die Formel: Je formalisierter und transparenter die Auswahlverfahren, um so sozial ausgewogener ihr Ergebnis. Die Rekrutierung in diesen Feldern gehorcht anderen Gesetzen und ist offener als im Bereich der Wirtschaft. So hätten der Sohn der Putzfrau und der Filius des Metzgermeisters niemals den Weg ins Kanzleramt und das Auswärtige Amt gefunden ohne die berühmte „Ochsentour“ in ihren Parteien und deren Verwurzelung in bestimmten sozialen Milieus. Die Justizelite pflanzt sich dagegen weitgehend durch den Bluttransfer aus den Beamten- und Angestelltenschichten fort. Eine Kontinuität der Selbstrekrutierung ist hier unverkennbar. Überdurchschnittlich hoch sind die Erfolgsaussichten der Angehörigen von Arbeitern, Angestellten und kleinen Selbstständigen in der Wissenschaft. Dem hat die Expansion des Bildungswesens in den 60er- und 70er-Jahren Vorschub geleistet.

Elitenreproduktion ist also kein Selbstläufer. Sie unterliegt politischen Kämpfen um Demokratisierung und zeigt in Krisensituationen gleichzeitig deren Grenze auf. Dann gilt: Je problematischer die Erfolgsaussichten in der Wirtschaft, dem ersten Objekt der elitären Begierde, um so attraktiver werden Führungspositionen in den anderen Feldern. Die Karten werden in diesem Moment neu gemischt, und in den folgenden Ausscheidungskämpfen hat der Nachwuchs des gehobenen und des Großbürgertums die besten Blätter.

Ein weiterer Faktor reduziert die Demokratisierungsgewinne in Politik und Wissenschaft: die Dominanz der Wirtschaftselite. Im Verhältnis der Teileliten zueinander spielt sie eindeutig die erste Geige. Hartmann nimmt hier den Machtinstinkt der Großbürgerkinder als Ausdruck der realen Verhältnisse: „Wen es nach Macht (und natürlich auch Geld) ‚gelüstet‘, den zieht es ganz offensichtlich vorrangig in die Topetagen der Großunternehmen.“

Leistung lohnt sich also nicht, d. h., sie tut es nur bis zu einer bestimmten Hierarchiestufe. Ab dieser schlägt die soziale Herkunft unerbittlich zu.

Denn dass „dabei sein alles ist“, diese Faustregel gilt auch für die Spitzenpositionen. Der Filter der Klasse wirkt ungebrochen. Aber er ist nicht nur einer der fetten Geldbörse, der Immobilien und des Aktiendepots. Von entscheidendem Einfluss ist letztlich der Habitus. Die formalen Berufsqualifikationen sind bestenfalls die halbe Miete für einen Aufstieg in höhere Gefilde. Sie werden übertrumpft durch Qualitäten des Subjekts, die im klassischen Sinne nicht erlernbar sind. Die berühmten guten Umgangsformen, eine bildungsbürgerliche Allgemeinbildung, die tatkräftige unternehmerische Grundeinstellung, die Souveränität in Auftreten und Verhalten beschreiben einen Habitus, der den Herrn erkennbar macht.

Schon Max Horkheimer wusste in den 30er-Jahren: „Die Freiheit, Selbstverständlichkeit, ‚Natürlichkeit‘, die einen Menschen in gehobenem Kreis sympathisch machen, sind eine Wirkung des Selbstbewusstseins; gewöhnlich hat sie nur der, welcher immer schon dabei war und gewiss sein kann, dabeizubleiben. Die Großbourgeoisie erkennt die Menschen, mit denen sie gern umgeht, die ‚netten‘ Menschen, an jedem Wort.“ Diese stilistische Klassenschranke wirkt umso stärker, je anonymer und unschuldiger sie sich gibt. Also erwählt man seinesgleichen, soziale Klone der besseren Kreise. Der Habitus schlägt jede Leistung. Er ist der charakterliche Anspruch auf Elite. Man weiß sich als „etwas Besseres“ und zeigt es wie selbstverständlich.

Hartmanns Studie legt eine unangenehme Konsequenz nahe: Die vermehrten Bildungschancen haben die sozialen Schranken der bürgerlichen Gesellschaft nicht durchlässiger gemacht. Im Zeitalter der Flexibilität steht vieles zur Disposition, aber nicht die Verteilung von Herrschaft, Reichtum und Einfluss. Der Teufel scheißt weiterhin auf die dicksten Haufen, und die begonnene Amerikanisierung der deutschen Bildungslandschaft hegt und pflegt diese mehr denn je.

„Der Mythos der Leistungseliten“ demontiert damit auch die geläufigen Soziologien der Gegenwart. Gegen die Vertreter von Individualisierung und Bastelbiografie beharrt Michael Hartmann auf der Stärke der sozialen Kräfte. Wo man herkommt, das bestimmt den Lebens- und Bildungsweg: über die ungleiche Verteilung der Chancen und über den Habitus.

In der alten Bundesrepublik schämte man sich der Klassenschranken, in der neuen festigt man sie. Ungleichheit tut gut. Früher wollte man Demokratie wagen, heute will man Spitzenkräfte auswählen. Es existiert kein offensichtlicheres Zeichen für den aktuellen Zustand von Herrschaft als die Unverfrorenheit, mit der sich seit Anfang der 90er-Jahre die Rede von der Elite Bahn bricht. Der Schock der Herrenrasse scheint endgültig überwunden. Es darf wieder ungestraft über die „Elite“ geredet werden, ohne gleichzeitig an die unvermeidliche „Masse“ zu denken. Oben und unten sind klassengesellschaftlich wieder da, wo sie nach Ansicht ihrer Beförderer zu sein haben: im Zustand der Selbstverständlichkeit. Hegel, der Diagnostiker von Herr und Knecht, hätte seine Freude.

Fast glaubte man als interessierter Zeitgenosse des soziologischen Denkens, dabei wäre nichts mehr abzuholen als Marktforschung nach Auftrag, gewürzt mit systemtheoretischer Erlebnis- und Risikosoße. Hartmanns Studie belegt, dass es auch anders geht: Soziologie als Aufklärung. Ein Lichtblick.

Michael Hartmann: „Der Mythos der Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft“. Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 220 Seiten, 19,90 €