Und sie bewegt sich doch

Ver.di stimmt Tarifvertrag mit Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich zu – bei der maroden Berliner AOK geht das, nicht aber bei der kranken Landeskasse. Senat: Mehr Flexibilität wäre hilfreich

von RICHARD ROTHER

Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di zeigt sich bei Einschnitten für Beschäftigte flexibler und kompromissbereiter, als es die harte Haltung bei den Verhandlungen mit dem Senat über den so genannten Solidarpakt vermuten lassen. Das beweist ein Tarifvertrag, den die Gewerkschaft in diesem Jahr mit der Berliner Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) abgeschlossen hat. Darin wurden deutliche Einkommenseinbußen für die mehr als 2.000 Berliner AOK-Beschäftigten beschlossen. Mit dem Solidarpakt will der rot-rote Senat die Personalausgaben im öffentlichen Dienst um jährlich 500 Millionen Euro senken und so die klammen Kassen der Stadt entlasten.

Bei der AOK wurde vereinbart, die Arbeitszeit kollektiv um 3,5 Stunden in diesem Jahr und von Januar bis März 2003 um drei Stunden pro Woche zu kürzen – ohne Lohnausgleich, versteht sich. Wer seine Arbeitszeit darüber hinaus individuell verkürzt, erhält einen teilweisen Lohnausgleich. Im Gegenzug wurden betriebsbedingte Kündigungen gerade mal bis zum nächsten Frühjahr ausgeschlossen. „Mit dem Tarifvertrag ist es der Gewerkschaft gelungen, die vom Arbeitgeber geforderten und beabsichtigen härteren Einschnitte abzuwenden“, begründet Ver.di-Verhandlungsführer Marco Pavlik das Einlenken der Gewerkschaft. Mit dem Auschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 2003 sei zudem „ein Stück sozialer Gerechtigkeit für die Beschäftigten“ erstritten worden.

Bei PDS-Haushaltsexperte Marian Krüger stößt diese Haltung auf Verwunderung. „Bei der AOK wertet Ver.di Einschnitte als Erfolg, die sie im öffentlichen Dienst als Erpressung ablehnt. Das passt nicht zusammen.“ Dabei sei das Angebot, das der Senat dem öffentlichen Dienst unterbreitet habe, wesentlich besser als das, was bei der AOK vereinbart worden sei. Krüger: „Die Gewerkschaft scheint sich jetzt auf einem anderen Planeten zu befinden.“ Angesichts der Haushaltsnotlage der Stadt müsse sich Ver.di auch hier bewegen.

Darauf hofft auch Senatssprecher Günter Kolodziej. Die Flexibilität, die die Gewerkschaft in anderen Bereichen an den Tag legt, wäre auch bei den Solidarpakt-Verhandlungen hilfreich, sagte Kolodziej mit Blick auf die AOK-Vereinbarungen. Im Zuge des Solidarpaktes hatte der Senat von den Gewerkschaften gefordert, bis 2006 auf Lohn- und Gehaltserhöhungen zu verzichten. Im Gegenzug sollten die Arbeitszeit verkürzt und betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen werden. Zudem waren Einschnitte beim Weihnachts- und Urlaubsgeld vorgesehen.

Für Ver.di-Sprecher Andreas Splanemann sind Solidarpakt und AOK-Tarifvertrag nicht miteinander vergleichbar. Bei den Krankenkassen würden die Tarifverträge regional ausgehandelt, wodurch in bestimmten Notlagen leichter vom Tarifvertrag abgewichen werden könne, um Arbeitsplätze zu sichern. Im öffentlichen Dienst hingegen werde bundesweit verhandelt. Sollten die Arbeitgeber regionale Öffnungklauseln wünschen, müsste dies Gegenstand der nächsten Tarifrunde werden. „Vielleicht sieht das nach der Tarifrunde ja anders aus.“ Von sich aus wolle Ver.di jedoch nicht zur Erosion des Flächentarifvertrages beitragen.

PDS-Haushaltsexperte Krüger lässt diese Einwände nicht gelten. Eine Gewerkschaft dürfe nicht nur die Tarifpolitik, sondern müsse auch die Beschäftigungspolitik im Auge haben. Sollte der Solidarpakt scheitern, könnten zum Beispiel nicht wie gewünscht neue Lehrer eingestellt werden.