Das hässliche Andere

Auf dem Weg nach Europa (3): Die Gegner eines türkischen EU-Beitritts missbrauchen das Land am Bosporus, um sich von ihrer eigenen Geschichte zu distanzieren

Die lang anhaltenden Debatten um das „Türkenproblem“ schaffen deutsche Identität

Die Türkei – ein Mitgliedsland der EU? Es wird noch viel Wasser durch den Bosporus fließen, bevor dies Wirklichkeit wird. Denn es gibt tausend gute Gründe, gegen einen Beitritt der Türkei zu sein. Was soll man in der westlichen Wirtschafts- und Wertegemeinschaft anfangen mit einem Land, das bis in die jüngste Vergangenheit den kurdischen Teil der Bevölkerung blutig unterdrückt hat, Teile Zyperns widerrechtlich okkupiert, die Folter als adäquates Mittel der Innenpolitik betrachtet? Und wer möchte sich mit einer korrupten politischen Elite einlassen, die in der eigenen Bevölkerung und Wirtschaft in erster Linie eine Beute zur hemmungslosen Bereicherung sieht?

Je genauer man auf dieses Land schaut, desto hässlicher wird es. Die Geschichte der modernen Türkei ist eine Erzählung der systematischen Ausrottung und Vertreibung ethnischer und religiöser Gruppen. Verantwortlich dafür waren weder Islamisten noch Faschisten, sondern die aufgeklärten, westorientierten kemalistischen Eliten. Sie zerschlugen das einstige multilinguale und multinationale Anatolien. Sie haben mit Hilfe „ethnischer Säuberungen“ eine weitgehend homogene türkische Nation erzwungen, die nun von der sunnitischen Mehrheit des Landes dominiert wird.

Nein, lieben muss man dieses Land nicht, in dem das Leugnen des Massenmordes an den Armeniern in den Status einer Staatsdoktrin erhoben ist. In dem bislang jedes Verbrechen gegen Minderheiten mit der besonderen Gefährdungslage der türkischen Nation gerechtfertigt wurde. Eine solche Türkei ist ein ungeeigneter Partner für die Europäische Union, die stolz ist auf ihre Demokratie, ihre sozialen und moralischen Standards und ihre Geschichte der Aufklärung.

Doch all jene, die meinen, das Sündenregister der Türkei sei zu lang, als dass das Land Mitglied der europäischen Familie sein könne, seien daran erinnert: Europa ist auf einem riesigen Leichenberg errichtet. Die wenigsten Mitgliedsländer der EU können die Demokratie zu ihrem nationalen Erbe zählen. Spanien mit seinem blutigen Bürgerkrieg und jahrzehntelangen faschistischen Herrschaft ist ein Paradebeispiel, wie die EU-Integration Demokratisierungsprozesse beschleunigen kann. Ebenso Portugal und Griechenland.

Ganz zu schweigen von der Bundesrepublik Deutschland. Ihr wurde nach 1949 vom Westen ein durch nichts zu rechtfertigender Vertrauensvorschuss gewährt. Behutsam von den Alliierten an die Hand genommen, haben die Deutschen dennoch langsam zurückgefunden in die Familie der rechtsstaatlichen Nationen.

Die Aufnahme postfaschistischer und autoritär regierter Staaten in die EU hat das europäische Bündnis nicht hässlicher gemacht. Selbst ausgemachte Schmuddelkinder wie Ost- und Westdeutschland wurden in der EU ansehnlicher, demokratischer, schöner. Warum soll das im Falle der Türkei anders sein? Es spricht also angesichts der jüngsten Demokratisierungsbemühungen der Türkei wenig gegen baldige Beitrittsverhandlungen. Wo nur noch wenig rationale Gründe gegen die Aufnahme der Türkei sprechen, greift noch immer das Ressentiment. Verfolgt man die augenblicklichen Debatten der Gegner eines EU-Beitritt der Türkei, drängt sich der Eindruck auf: Die Türkei kann sich noch so sehr um demokratische Fortschritte bemühen, an ihrem Pariadasein wird das wenig ändern. Europa hält verzweifelt am Bild der undemokratischen, unreformierbaren Türkei und des bäuerlich-rückständigen Türken fest. Fragt sich nur, warum?

Folgende Erklärung bietet sich an: Europa missbraucht die Türkei als Projektionsfläche. Die eingangs beschriebene Aggressivität der jungen türkischen Nation ließe sich variantenreich am Beispiel vieler europäischer Nationalstaatsgründungen nacherzählen. Die Fixierung auf scheinbar türkisches Unvermögen schafft Distanz zu der eigenen ungeliebten Geschichte. Sie lässt vergessen, dass die eigenen Verbrechen, begangen im nationalen Interesse, selbst bei demokratischen Musterknaben wie Frankreich und England noch nicht allzu weit zurückliegen, dass der Zivilisationsgewinn alles andere als eine lange europäische Tradition ist.

Was auf zwischenstaatlicher Ebene gilt, lässt sich bei der Interaktion sozialer Gruppen im nationalen Rahmen noch klarer beobachten. Seit nahezu dreißig Jahren arbeitet sich Deutschland an den eingewanderten Türken ab. Und es gibt wenig, für das die Türken in dieser Zeit noch nicht verantwortlich gemacht wurden. Wohnungsnot, Frauenunterdrückung, Kriminalität und Gewalt in den Städten, Arbeitslosigkeit, politischer Extremismus und Bildungsnotstand – in Deutschland gibt es kaum ein gesellschaftliches Problem, als dessen Ursache nicht Türken gälten.

Die Aufnahme postfaschistischerStaaten hat die EU nicht hässlichergemacht

Natürlich hat das vorherrschende Türkenbild wenig mit der komplexen Realität zu tun. Aber es ist praktisch. Denn die Konstruktion des Türkenbildes, das sich am besten mit den Begriffen rückständig, asozial, gewalttätig und integrationsunfähig umreißen lässt, dient vielen Deutschen seit Jahrzehnten zur Selbstfindung. Erst in der aggressiven Abgrenzung zu den Türken können sich viele Deutsche als das fühlen, was sie niemals waren – weltoffen, zivil, modern und polyglott. Gleichzeitig ermöglicht die Beschwörung der Türkengefahr nach wie vor ungeahnte Karrieren. Franz Schönhuber, Gerhard Frey, Helmut Kohl, Heinrich Lummer und Roland Koch – sie alle wären ohne den Rückgriff auf den türkischen Joker politisch weniger erfolgreich gewesen. Selbst der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat in seiner langen Wissenschaftskarriere selten so viel öffentliche Aufmerksamkeit erlangt wie mit seiner Aussage: Die Türken seien im Prinzip nicht integrierbar, man solle sich deshalb nicht freiwillig Sprengstoff ins Land holen.

Die lang anhaltenden Debatten um das „Türkenproblem“ schaffen deutsche Identität. Wie viele Einwanderer in einem Stadtteil sind sozial verträglich? Wollen wir islamische Schulen und Religionsunterricht? Die doppelte Staatsbürgerschaft? Muttersprachlichen Unterricht? Seit den frühen Achtzigerjahren werden diese Fragen leidenschaftlich am Beispiel der Türken in Deutschland diskutiert. Sie sind die Katalysatoren bei der Suche nach Antworten auf die alten deutschen Fragen: Wer sind wir – als Kulturnation, als Gesellschaft? Wer wollen wir sein? Gleichzeitig war es noch nie so einfach, sich von der eigenen bäuerlichen, faschistischen und antizivilisatorischen Familiengeschichte zu distanzieren wie mit dem Verweis auf die rückständigen und unzivilisierten Türken. All das sind die tieferen Gründe, weshalb sich Deutschland so lange gegen eine gesellschaftliche und vor allem politische Emanzipation seiner eingewanderten Türken in Form eines neuen Staatsbürgerschaftsrechts gewehrt hat. Nun gilt es, die Aufnahme einer demokratischen Türkei in die Europäische Union zu verhindern. An wem sonst sollten Europa und Deutschland denn auch ihre moralische Überlegenheit demonstrieren? EBERHARD SEIDEL