Die strengen Zuwanderer

Konfuzianistisch geprägte Migranten aus Asien üben enormen Leistungsdruck auf ihre Kinder aus. Obwohl die in der Schule oft zu den Besten zählen, bereitet ihnen der Anspruch persönliche Probleme

aus Berlin MARINA MAI

Das zehnjährige vietnamesische Mädchen Lan bringt eine famose Mathematikarbeit mit nach Hause zu ihren Eltern. Sie legt sie ihrem Vater vor. Statt freudig zu unterschreiben, reagiert er abweisend und streng. „Du kannst besser sein“, ermahnt er Lan, „du sollst mehr lernen.“ Dabei brachte das Töchterchen eine Eins mit, sie erreichte 39 von 40 Punkten. Ihre Lehrerin hatte die Viertklässlerin dafür in höchsten Tönen gelobt.

Der Druck aus Konfuzius’ Tradition

Zu Hause sind die Maßstäbe höher als in der Schule. Das ist eine Erfahrung, die Lan mit vielen vietnamesischen und anderen asiatischen Kindern in Deutschland teilt. „Die Eltern legen gemäß der konfuzianistischen Tradition sehr großen Wert auf gute schulische Leistungen“, erklärt Nguyen Do Thien vom Rostocker Verein Dien Hong.

Anders als es häufig bei Kindern türkischer Zuwanderer ist, sprechen viele junge Deutschasiaten meist akzentfrei Deutsch. „Die Erwerbstätigkeit der Frau ist in diesen Kulturen eine Selbstverständlichkeit“, begründet Dagmar Yu-Dembski von der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft. „Das heißt, dass die Kinder früh in Kindergärten kommen.“ Dort wachsen sie dann wie selbstverständlich mit der deutschen Sprache auf.

Der Rostocker Nguyen Do Thien kritisiert die Lernidee, die in den meisten vietnamesischen Familien in Deutschland herrscht. „Sie können ihren Kindern oft nichts geben als großen Druck.“ Viele Schülerinnen und Schüler halten dem nicht stand. Sie reißen von zu Hause aus. Sie verlassen die Schule. In Berlin-Marzahn hat sich erst Anfang Mai eine 19-jährige vietnamesische Abiturientin aus dem elften Stock eines Hochhauses gestürzt. Sie starb. Die Tat hing mit den schulischen (Selbst-)Ansprüchen zusammen. Das legten Berichte von Lehrern und Freundinnen nahe.

Anders als es dem Klischee vom radebrechenden Migranten entspricht, gehören Asiaten häufig auch zu den Besten in ihren Klassen. Welche Probleme die Jugendlichen mit sich herumtragen, bleibt oft auch dort jahrelang unbemerkt. Erst in der Pubertät fallen sie auf. Auch Brunhilde Krumnow lobt die Leistungsorientierung der jungen Deutsch-Vietnamesen. Nur sieht die Schulleiterin des Wilhelm-von-Siemens-Gymnasiums in Berlin auch die Schwierigkeiten der Jugendlichen. Ihnen mangelt es zum Beispiel oft an guter Rechtschreibung. Sie lesen in ihrer Freizeit nicht – weil das aus Sicht ihrer Eltern Zeitverschwendung ist, wenn die Lektüre nicht zum Lernstoff zählt.

Defizite sieht Schulleiterin Krumnow im Sozialverhalten. Vietnamesische Eltern beanspruchen ihre Kinder so stark, dass die an Arbeitsgemeinschaften oder Schulfreizeiten nicht teilnehmen können. Während deutsche Schüler dabei nebenher Teamfähigkeit üben, müssen ihre asiatischstämmigen Mitschüler arbeiten. „Nach Schulschluss müssen sie im Blumenladen helfen oder wo die Eltern sonst tätig sind“, so Krumnow.

Die vietnamesischen Schüler nehmen die Belastung wie selbstverständlich hin. Während des Abiturs steigen Leistungsdruck und die Vereinnahmung durch die Familie noch. Viele Schüler „haben dann nicht mehr die Kraft, dem Unterricht zu folgen“, sagt Schulleiterin Krumnow. Wenn die Fehltage zu viel sind, müssen sie die Schule verlassen.

Die zehnjährige Lan arbeitet in Mathematik bereits mit Brüchen, in Deutschland Lernstoff der 6. Klasse. Die Viertklässlerin muss sich diesen Stoff an den Nachmittagen selbstständig anhand der Lehrbücher aus Vietnam erarbeiten. Das verlangen ihre Eltern. Denn in Vietnam sind Brüche Stoff der 4. Klasse. Wenn also Lans achtjährige Cousins und Cousinen ihr in den Sommerferien etwas vormachen könnten, würden Lans Eltern das als Schande empfinden. Deshalb zwingen sie die Tochter, den ganzen Tag zu lernen – und den Haushalt zu versorgen. Spielen darf das Mädchen erst, wenn die Pflichten erledigt sind, doch dann ist sie meist müde.

Deutschland hält seine Kinder dumm

In ihrem Selbstverständnis tun die Eltern das Beste, wenn sie Lan zum Lernen zwingen. Schließlich habe der Pisa-Test gezeigt, dass die Kinder in Deutschland dumm gehalten werden – so drückt es der ehrgeizige Vater Lans aus. Eine Studie der Universitäten München und Hanoi hat gezeigt, dass die Hanoier Dritt- bis Sechstklässler ihre Münchener Alterskameraden in Mathe und Lernmotivation weit in den Schatten stellen.

Die vietnamesischen Medien bestärken ausgewanderte Eltern in ihrer Einstellung. Sie legen Wert auf Faktenwissen. Wissen kritisch zu hinterfragen oder Autoritäten in Frage zu stellen ist tabu. Das Staatsfernsehen, das auch in Deutschland empfangen wird, propagiert das Schulsystem aus Japan und Südkorea. Dort lernen bereits Vorschulkinder Schreiben, was als Garant für das asiatische Wirtschaftswunder angesehen wird.

Ihre Muttersprache können aber auch perfekt Deutsch sprechende Kinder oft nur bruchstückhaft. Wenn die Eltern schlecht Deutsch sprechen, findet in der Familie kaum eine Kommunikation statt. Gerade in der Pubertät fehlen Eltern und Kindern oft schon die gemeinsamen Worte, um über die anstehenden Probleme zu sprechen.

Für vietnamesische Kinder fördern daher freie Träger Vietnamesisch-Unterricht an Wochenenden. „Wir wollen mit diesem Angebot die Kommunikation in den Familien verbessern“, sagt die Geschäftsführerin der Berliner „Reistrommel“, Tamara Hentschel. „Deshalb haben wir den Schwerpunkt auf mündliche Dialoge gelegt.“ Doch das akzeptierten die Eltern nicht. „Die wollten Frontalunterricht, Zensuren und die Bewertung von Schönschrift.“