Oh Baby, Baby, Daladala

Mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Daressalam

VON KLAUS RAAB

Es sind noch zwanzig Meter bis zur nächsten Haltestelle, zwanzig Meter mit fünfundzwanzig Fahrgästen, einem Fahrer und einem Huhn im Minibus, vier verschnürten Paketen auf dem Dach und 36 Grad Außentemperatur. Und dementsprechend fühlt es sich an, das Anschieben. Der Motor ist ausgefallen, und wer zuletzt eingestiegen ist, deshalb ganz vorne steht und zu allem Übel männlich und halbwegs bei Kräften ist, der wird an die hintere Stoßstange abkommandiert.

Und so finden sich schließlich mit dem Kopf über dem Asphalt der Ali Hassan Mwinyi Road, einer von Daressalams Hauptverkehrsachsen: Issah, wohnhaft im Stadtteil Kinondoni und sich über den Motorschaden ausführlich kaputt lachend, Brian, als Automechaniker arbeitend und unentwegt von Mercedes schwärmend, der Fahrkartenverkäufer, der statt um Namens- und Lebensdatenaustausch nur wortlos um das Fahrgeld gebeten hat, und ich, von allen offensichtlich am meisten schwitzend und liebevoll „Mzungu“ gerufen: „Weißer.“

Eine halbe Stunde zuvor. Die Fahrt beginnt unweit des Askari-Monuments, das auf einer Verkehrsinsel neben einem der höheren Gebäude der Stadt steht, auf das die Bürger ungleich stolzer sind als auf das Denkmal, das an die Toten des Ersten Weltkriegs erinnert. Die Haupthaltestelle der Daladalas, der Minibusse, befindet sich an der Post, die von einer lokalen HipHop-Gruppe als City Center besungen wird und es irgendwie auch ist.

Es ist ein Ort, an dem keine Ruhe einkehrt, von Sonnenauf- bis nach Sonnenuntergang. Die Straße ist von Händlern gesäumt, ein Zeitungsstand grenzt an den nächsten, und jeder Verkäufer gibt gerne und dann lautstark seine Meinung kund, dass seine Ausgaben von Dar Leo, Kiu ya Jibu und Guardian besser sind als dieselben Ausgaben der Nachbarn. Ein Kassettenhändler quetscht sich mit seinen Bässen auf Rädern an ihnen vorbei.

An einer Ecke gibt es in einem Kiosk Maandazi – Krapfen – und Soda, an einer anderen Prepaidkarten fürs Handy, Postkarten von Wamasai, die Milch direkt aus dem Kuheuter trinken, und die überzeugende durchdringende Stimme dazu, die jedem passierenden Mzungu versichert, dass er die haben will. Zwischen den kleinen Tischen eines Süßigkeiten- und eines Tuchverkäufers sitzt ein älterer Mann, ohne sich vom Trubel behelligen zu lassen, auf einem hölzernen Hocker und spielt mit einem Bonbonpapier. Tabakwarenverkäufer klimpern mit 10-Schilling-Münzen, um auf sich und vor allem darauf aufmerksam zu machen, dass man bei ihnen nicht nur Päckchen, sondern auch einzelne Zigaretten kaufen kann, während sie sich an den Daladalas vorbei zwischen den Menschen hindurchschlängeln.

Issah wartet auf den Minibus über Kivukoni nach Manyamala und tauscht Grußformeln mit seinem Bruder neben ihm aus, der ein lebendiges Huhn unter dem Arm trägt, das beleidigt vor sich hin gackert. Es gibt keine Hinweisschilder, welcher Bus wo abfährt. Es gibt nur die Fahrkartenverkäufer, die das Ziel der bevorstehenden Fahrt ankündigen und die, da sie das lautstark tun, wapiga debe genannt werden, „die Trompetenbläser“.

Und es gibt eine Aufschrift vorne auf dem Bus: „Posta – Masaki“ steht da zum Beispiel. Oder „Posta – Mwenge“. Oder „Kivukoni – M’nyamala“. Warten auf den Bus bedeutet daher auch, die Straße vor der Post abzulaufen, rauf und runter, und Ausschau zu halten nach dem richtigen in einer Zahl von Daladalas, die nun, am Feierabend, eine kleine Unzahl ist. Es sind nicht nur die Menschen, die ein wenig herumdrängeln, sobald ein Bus im Anhalten begriffen ist; die Daladalas selbst scheinen ein Eigenleben zu haben und sich beteiligen zu wollen am Rangeln um jeden Quadratmeter freien Halteplatz.

Doch Drängeln ist gut für die Atmosphäre. Ohne Daladala steht die Stadt still. Ohne Daladala weniger Leben. Ohne Daladala weniger Nervenkitzel. Es ist Stoßzeit, und in der Stoßzeit ist jeder nicht vorhandene Bus einer zu wenig, jeder vorhandene Bus zu klein, die Straße vor der Post zu kurz und ein Sitzplatz zu guter Letzt ein kleines Privileg. Werktags zwischen fünf und sechs, wenn all die Verkäufer, Bankangestellten, Schuhputzer, Redakteure und Schüler der Secondary Schools die Innenstadt fluchtartig verlassen, um zu ihren Familien zu kommen und anschließend zu den Nachbarn, die in den Corner Bars bei einem Bier zusammensitzen, um Ideen auszutauschen, feiert Daressalam inoffizielle Olympische Spiele. Das Einsteigen in einen der Daladalas hat um diese Uhrzeit Wettkampfcharakter; aber worum gekämpft wird, ist ausschließlich das Dabeisein. Das Mitfahren. Mitfahren in der Stoßzeit heißt: maximale Aufdringlichkeit. Mit einem Knie, mit der Aktentasche oder mit Glück schneller im Bus zu sein als die anderen. Oder mit einem Huhn: Issahs Bruder hält es vor sich wie ein Fußballtorwart einen leicht gefangenen Ball, und einige Konkurrenten um einen Sitzplatz haben Respekt und lassen ihn durch. Issah rutscht als einer der letzten irgendwie noch mit rein.

Ankommen heißt erst einmal abfahren, doch abfahren heißt noch lange nicht ankommen. Nach zwanzig Minuten Wartezeit in der Schlange der Daladalas vor der Ampel biegt der Fahrer im Schritttempo in die mehrspurige Bibi Titi Mohammed Road ein, während er das Radio lauter stellt. „Nitoke vipi?“, rappt Bwana Misosi, ein Newcomer, der in Tansania einen großen Hit gelandet hat: „Wie komme ich raus?“ Und eigentlich meint er mit der im HipHop typischen Selbstreferenzialität das Musikbusiness damit, aber dank Stoßzeit und fünfundzwanzig Leuten in einem Minibus ist es auch der Song für alle Daladala-Kunden, die vor den anderen Fahrgästen aussteigen wollen. Wie kommt man vorne links raus, wenn man hinten rechts sitzt, auf den zwei Plätzen vor sich eine dicke Mama mit einem Kind auf dem Schoß, auf den zwei Plätzen links neben ihr vier hagere Gestalten und auf dem eigenen Schoß ein anderer Fahrgast? Es ist eines der Rätsel des Daladalafahrens.

Der Fahrkartenverkäufer und Stationenankündiger, der Mittzwanziger ist und neben Fahrkartenverkäufer und Stationenankündiger auch Kontrolleur der zuvor von ihm verkauften Tickets, klopft mit ein paar Münzen den Takt auf die Stelle über der klapprigen Schiebetür, an der der Lack bereits abgeschlagen ist vom vielen Münzenklopfen. Er trägt zwei Hosen übereinander wie viele seiner Kollegen in den Daladalas; die eigene und darüber eine weite Stoffhose in einem rötlichen Braunton, der seinen Stand unverwechselbar macht in Daressalam.

Das Huhn von Issahs Bruder gackert. Niemand nimmt Notiz. Plötzlich hüpft der Bus, der Motor säuft ab, der Daladala rollt noch ein wenig, von hinten hupt es, von der Seite hupt es, der Fahrer hupt zurück, stellt das Radio reflexartig noch ein wenig lauter, da es sonst von seinem eigenen Hupen übertönt würde, und eine Minute später finden sich jene vier Männer an der Busstoßstange. Issah, der das urkomisch findet; Brian, der Mechaniker; der Ticketverkäufer mit den zwei Hosen, der nicht viel redet; ich, der einfach nur schwitzt.

Ein Mann hängt seinen Kopf aus dem Fenster eines im Stau langsam vorbeischleichenden Daladalas und fragt Issah, der die Gelegenheit, nicht weiterzuschieben, dankbar wahrnimmt, nach den Neuigkeiten des Tages. Die Höflichkeit gebietet es, gängige Grußformeln wie diese ausführlich zu beantworten. Es gebe nur gute, sagt Issah zu seinem Bekannten und fragt zurück. Bei beiden ist alles in bester Ordnung, auch bei den Familien, speziell bei Frau und Kindern, sowie in der Arbeit.

An einer breiten Fahrbahnstelle nahe der Station Palm Beach nimmt sich Brian, der Mechaniker, notgedrungen mit bloßen Händen des Daladala-Innenlebens an. Er wird zum Dank das Fahrgeld von 150 Shilling nicht bezahlen müssen, etwa 13 Eurocent. Issah hat sein Gespräch beendet und kommt gemächlich angetapst. „Mercedes“, sagt Brian, „das ist ein Auto“, deutet wirsch auf den Toyota Hiace vor sich, schmeißt mit ein paar englischen Fachausdrücken aus dem Kfz-Bereich um sich und fährt mit seinem Lobgesang aufs deutsche Auto fort. „Oder BMW und Porsche“, sagt er, „da kannst du ein Glas Wasser auf den laufenden Motor stellen und merkst nicht, dass er läuft.“

Er wischt sich die Hände an der Hose ab, schlägt kräftig mit der flachen Hand auf die Haube, der Fahrer dreht den Zündschlüssel um, und der Motor springt an. „Einmal“, sagt Brian, „möchte ich einen Mercedes reparieren. Dafür bin ich doch auf die Welt gekommen.“ Issah lacht ansteckend, steigt neben Brian zurück in den Bus, der zweihosige Fahrkartenverkäufer knallt mit der Hand aufs Dach, das Zeichen für den Fahrer, dass es weitergehen kann, und springt als Letzter selbst in den rollenden Toyota. Aufbruch in den Feierabend, ein neuer Versuch, mit letzter Kraft. Das Huhn gackert.

Zum Abendessen später wird es Ugali, Spinat, Soße und ein wenig Fleisch geben. „Was für Fleisch?“, frage ich. „Rindfleisch“, sagt Issah. „Heute noch einmal Rindfleisch.“ Das Huhn steigt in Kinondoni mit Issahs Bruder hinter Issah und mir aus dem Bus. Einen Moment lang verharren wir, bevor wir uns in Bewegung setzen, an Wellblechhäusern am Straßenrand entlang, an einer Autowerkstatt vorbei. Radlos und durchgerostet steht einer von Daressalams unzähligen Toyota Hiace vor dem Eingang. Der Mann mit den zwei Hosen schlägt mit der Hand aufs Dach, der Daladala tuckert weiter, rechts stark durchhängend. Die Straßen in vielen Bezirken Daressalams sind mit guten Vorsätzen gepflastert, und müde und angeschlagen, aber optimistisch kämpft sich der Bus durch das nächste Schlagloch. Am oberen Ende der Heckscheibe pappt ein Ferrari-Aufkleber. Nur Lucky Luke reitet stolzer der untergehenden Sonne entgegen.

KLAUS RAAB, 25, lebt als freier Autor in München. Der Ethnologe schwitzt gerade über seiner Magisterarbeit zu tansanischem HipHop