Verschollen an deutschen Schulen

Ihre Eltern kannten die Kultur nicht, sie hatten keine Fürsprecher und das Schulsystem setzte sie auf die falschen Karrieregleise. Zwei Beispiele bildungshungriger Einwandererkinder, die versuchen, aus den Sackgassen der deutschen Schule auszubrechen

„Aber dann habe ich mich irgendwann entschlossen, meinen Traum doch noch anzupacken“

AUS KARLSRUHE STEFANIE ADAMCZYK

Anahita ist zwanzig. Die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens hat Anahita in einer baden-württembergischen Großstadt verbracht. Seit sie vierzehn ist, jobbt sie regelmäßig, hilft mal als Verkäuferin, mal als Kellnerin aus. Derzeit serviert sie wieder. In der Musikbar „Radio Oriente“ – klassische Typbesetzung, denn Anahita ist Iranerin.

Wenn es nach dem Berufsberater gegangen wäre, den sie nach ihrem Hauptschulabschluss vor vier Jahren orientierungslos aufsuchte, würde sie so etwas heute wohl hauptberuflich machen. Sie sei so keck und wortgewandt. Ob sie nicht Verkäuferin werden wolle, hieß es damals. „Nur weil ich in meinem Berufsfragebogen angegeben habe, dass ich gern etwas ‚mit Menschen‘ zu tun haben möchte?“, fragt Anahita heute. „Was sonst schreibt man schon mit 16 Jahren auf solch einen Zettel?“

Die junge Frau, die hier mit großen fragenden Augen schaut, will niemandem einen persönlichen Vorwurf machen. Will nicht behaupten, dass nur Schüler mit ausländischem Hintergrund so abgefertigt werden – und wischt diese Annahme gleich mit einer energischen Handbewegung vom Tisch. Sie wolle nur die Chance, die ihr zusteht. „Ich war noch so klein, als ich nach Deutschland kam, dass ich zumindest sprachlich alle Möglichkeiten gehabt hätte, etwas aus mir zu machen“, meint Anahita in akzentfreiem Deutsch. Trotzdem sei sie, wie sie es heute empfindet, erst einmal auf die Hauptschule abgeschoben worden. „Ich hatte einfach keinen Fürsprecher.“

Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Sonderschule – was gemeinsam begonnen hat, wird in Deutschland nach vier Jahren Grundschullaufbahn auseinander getrieben, um in der angeblich begabungsgerechten Richtung weiter zu machen. Getrennt nach Fähigkeiten. Der Blick in die Daten des Statistischen Bundesamtes macht jedoch auch deutlich, dass es auf diese Weise zu einer sozialen Verzerrung kommt.

So stehen einem Ausländeranteil von rund 12 Prozent an bundesdeutschen Grundschulen, ganze 19 und 16 Prozent an Haupt- und Sonderschulen gegenüber, während nur magere 4 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund nach der Grundschule auf ein Gymnasium wechseln. Integrationsversäumnis. Das zumindest findet, wer nach Gründen sucht. Die Begegnung mit Anahitas Mutter etwa bedeutet zunächst einmal die Begegnung mit einer augenscheinlich westlichen Frau. Erst als diese iranische Mutter, die mit kurzen blondierten Haaren, in Pulli und Hose vor einem steht – und von der man bereits weiß, dass sie sogar liberal genug ist, um ihre Tochter auch unverheiratet mit ihrem Freund zusammenleben zu lassen –, erst als diese Frau den Mund aufmacht und nur Farsi herauskommt, wird das eigentliche Problem deutlich.

Diese Frau weiß, dass sie es ist, die sich hätte integrieren müssen. „Doch wann immer meine Mutter kleine Schritte in die deutsche Sprache unternommen hat“, erklärt Anahita, „wurde sie verlacht und gedemütigt.“ So bleibt sie lieber taub und stumm. Und fühlt sich schuldig, dass ihre vier Kinder ihretwegen immer wieder zurückgesetzt wurden. Denn was ihr heute noch immer unmöglich ist, war zur Grundschulzeit ihrer Tochter vor über zehn Jahren erst recht nicht machbar: eine aktive und unterstützende Planung der Schullaufbahn. „Menschen sind verschieden und Kulturen sind verschieden – und wir konnten nur aus dem lernen, was man uns erklärt hat“, weiß Anahita. So wurde zum Beispiel ihr ein Jahr älterer Bruder Arash noch mit einer leeren Schultüte eingeschult. „Mama hatte die Tüte nur schnell besorgt, weil am Vorabend eine Nachbarin sagte, dass man die in Deutschland braucht. Erklärt, dass da auch noch etwas reinsoll, hat uns jedoch niemand.“ Heute können sie darüber lachen. Damals war es nur traurig. Ist es eigentlich immer noch.

Das Schicksal mit der leeren Schultüte blieb Anahita erspart, denn die Familie hatte gelernt. Doch etwas anderes blieb unerklärt: „Ich wusste nicht, dass die Zukunft eines Kindes in Deutschland schon nach der vierten Klasse entschieden wird“, sagt die sprachlose Mutter. „Im Iran gibt es schulisch nur einen Weg – und der führt, wenn man gut genug ist, an die Universität.“ Und genau dort will Anahita hin. Medienwissenschaftlerin werden. Nicht Verkäuferin, nicht Kellnerin. Was dieses Ziel angeht, befindet sie sich in Deutschland derzeit auf einem weiten Umweg: dem über das Abendgymnasium.

Einem Weg, der dem so genannten zweiten Bildungsweg angehört, und bei dem das Abendgymnasium nur eine der Optionen ist, auch nach einer zu frühen Auslese im regulären Schulbetrieb noch einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Abschluss zu erhalten.

Einen Weg zum nachträglichen Abitur, den auch Dijana geht. Dass sie ebenso wie Anahita Kind von Migranten ist, spielt dabei jedoch keine Rolle. „Auch anders sind Wege manchmal einfach nicht gerade“, meint die 27-Jährige und erzählt von ihrem Werdegang, der sie über die Realschule zunächst zur ausgebildeten Arzthelferin machte. „Was ich aber eigentlich immer sein wollte, war selbst Ärztin.“ Und genau in diesem Moment geht ein belebender Ruck durch die junge Frau, die sich bislang etwas abgespannt an ihrer Kaffeetasse festzuhalten schien – monoton, müde, gegen das warme Gelb der Wände im Café etwas blass wirkend. „Erst habe ich gedacht, das ginge nicht mehr. Es sei zu spät, weil niemand rechtzeitig daran gedacht hat, mich gleich aufs Gymnasium zu schicken. Aber dann habe ich mich irgendwann entschlossen, meinen Traum doch noch anzupacken.“ Sie überlegt einen Moment, ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen, der Mund kräuselt sich, bevor Dijana sich berichtigt: „Nein, ich habe mich entschlossen, für meinen Traum zu kämpfen!“

Wem diese Formulierung im Zusammenhang mit Bildung etwas hart erscheint, der muss selbst nach einer passenderen suchen, wenn er von Dijanas Tagesablauf hört. „Ich habe keinen freien Tag in der Woche.“ Wieder wirkt sie müde, zieht an ihrer Zigarette. Vor ihr liegt ein Mathebuch. Es ist 17 Uhr. Kleine Verschnaufpause. Seit zwölf Uhr mittags bis vor einer halben Stunde hat sie noch in einem Internetcafé gekellnert. Jetzt hat sie noch fünfzehn Minuten – dann wird sie bis 22 Uhr schräg gegenüber im Abendgymnasium sitzen. So sieht Dijanas Montag aus. Der Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. „Freitags habe ich keine Abendkurse“, sagt sie. „Dann kann ich von zwölf bis halb neun im Café arbeiten.“

Freitags, 20.30 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt sieht man Dijana aus dem Internetcafé stürmen und es scheint ihr gar nicht schnell genug nach Hause gehen zu können, wenn sie die Straße runter und die Treppe hoch in den vierten Stock eilt.

Und dann gleich wieder runter – denn sie hat sich nur kurz umgezogen. „Am Wochenende bediene ich zusätzlich noch in einer Bar. Freitags ab neun, samstags und sonntags ab sieben Uhr.“ Bis Dijana schließlich erneut die achtzig Stufen zu ihrer Wohnungstür in Angriff nimmt und oben bleiben kann, wird es oft vier Uhr in der Früh.

Halb verteidigend, halb resignierend meint sie: „Tja, geht leider nicht anders.“ Sonst käme sie finanziell nicht über die Runden.

Warum sie nicht einfach in ihrem erlernten Beruf arbeitet? Achselzucken. Die Arbeitszeiten ließen sich nicht mit ihren Abendkursen vereinbaren. Und wann nimmt sie sich Zeit zum Lernen? Vormittags, vor Klausuren oft auch noch nachts. Aber sie habe ja schon gesagt, dass sie zu kämpfen bereit ist. Und Dijana schließt: „Weißt du, wer nach dem ersten halben Jahr nicht aufgegeben hat, der will es wirklich.“

Sie will es. Wie auch Anahita und mit ihnen tausende in Deutschland. Rund 3.300 sind es allein in Baden-Württemberg. Wenn die Landesregierung dort ab 2005 die Zuschüsse für den zweiten Bildungsweg wie geplant kürzt, wird der Weg für all jene noch etwas steiniger. „Ein Schulgeld von 1.200 Euro im Jahr könnte ich mir wohl kaum leisten“, meint Dijana.

Um diese drohenden Kosten vielleicht doch noch abwenden zu können, zieht sie so mit Anahita durch die Straßen und sammelt Unterschriften für eine Petitionsliste, die unter der Adresse www.betteln-fuer-bildung.de im Internet steht. Sätze, welche die beiden Abendschülerinnen dabei immer wieder einstecken müssen, sind: „Warum geht ihr nicht einfach arbeiten?“ und „Selbst schuld! Ihr hättet ja Abi machen können, wie andere auch.“