… und der Zukunft zugewandt

Tausendmal ist der Ku’damm totgesagt worden, tausendundeinmal ist er wieder auferstanden. Selbst die Wilmersdorfer hat ein neues Gesicht. Wenn das kein Grund zum Feiern ist: 300 Jahre nach seiner Gründung erfindet sich Charlottenburg neu

von UWE RADA

Bis vor Kurzem galt: Wer am Bahnhof Zoo aus dem Zug fällt, steht mitten drin im Westberliner Elend. In der Jebenstraße Obdachlose, vor dem Hardenbergplatz eine Investitionsruine, dahinter das schmuddelige Ku’damm-Eck. So sah sie also aus, die alte Pracht aus Frontstadtzeiten: ein Schaufenster des Westens, dem man die Scheiben eingeschlagen hatte.

Inzwischen haben sie aufgeräumt am Zoo, das Elend unsichtbar gemacht, rund um die Investitionsruine klebt bunte Berlinwerbung. Auf das wirklich Neue an Charlottenburg trifft man aber zwei, drei Blocks weiter südlich. Beinahe unbemerkt hat sich an der Joachimsthaler Ecke Augsburger Straße ein Hochhaus in den Himmel geschraubt, 17 Stockwerke hoch, im Sommer wird eröffnet, Hotel Concorde, 350 Zimmer vom Feinsten. Understatement als Ereignis, darauf versteht man sich wieder im Westen der Stadt. Wäre das Concorde in Mitte in den Himmel gewachsen, der Hype wäre wohl unerträglich gewesen.

Mag sein, der unscheinbare Riese ist ein Symbol für die Wiederkehr des „Neuen Westens“, aus dem nach der Wende nolens volens ein alter geworden war. Mag aber auch sein, ein solches Symbol wäre gar nicht nötig. Tausendmal totgesagt, ist die City-West tausendundeinmal auferstanden und hat es ihren Kritikern immer wieder gezeigt. Wenn die Touristen in der Stadt sind, wissen die Charlottenburger, dass sie alles andere sind als Verlierer. Dann ist der Ku’damm voll wie zu Mauerzeiten. Totgesagte leben länger.

Überhaupt ist die 300-jährige Geschichte von Charlottenburg die Geschichte von Ende und Neuanfang. Bevor Friedrich I. am 5. April 1705 dem Haufen Häuser vor Berlin die Stadtrechte verlieh und die neue Stadt „Charlottenburg“ nannte, hatte er seine Frau verloren. Sophie Charlotte, gebildet, weltoffen und lebenshungrig, war am 1. Februar 1705 im Alter von 37 Jahren an den Folgen einer verschleppten Erkältung gestorben.

Die Stadtgründung ihr zu Ehren war ein Akt der Erinnerungskultur, auch wenn er Friedrich schwergefallen sein muss. Sophie Charlotte, die fließend Französisch, Englisch und Italienisch sprach, war ganz das Gegenteil des Preußenkönigs. Wenn man so will, steckt im Gründungsakt von Charlottenburg die ganze Schizophrenie des Preußentums: hier schöngeistige Philosophiererei, dort rücksichtloses Machtstreben, von dem 1945 nur Ruinen blieben und das Ende eines Staates Preußen, dem der Schöngeist längst abhanden gekommen war.

Eine dieser Ruinen ist nach dem Krieg Symbol geworden – die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Drumherum aber hieß die Parole: Auferstehen aus Ruinen und der Zukunft zugewandt. Der Bau der Mauer erforderte im Westen ein neues Zentrum, und der Kurfürstendamm machte seine Sache nicht schlecht. Europa-Center, Bikinihaus, Wasserklops. Hier gaben sich die Wilmersdorfer Witwen ein Stelldichein und die Revolutionäre aus Kreuzberg. Man hat den Ku’damm geliebt und gehasst, gezweifelt an ihm hat keiner.

Bis 1989 das Ende der Teilung kam. Bikinihaus und Wasserklops waren out, am Ku’damm zogen die Kinos aus und die Discounter ein, Szene und Bonn-Berliner standen auf „Neue Mitte“ und Kollwitzplatz. Charlottenburg sah aus wie eine alternde Diva, der nur noch Lotti Huber und der CSD die Treue hielten. Der Vorhang konnte fallen.

Aber er fiel nicht. In der Wilmersdorfer Straße konnte man es schon beobachten, bevor das Hochhaus in der Augsburger Straße in die Lüfte wuchs. Schritt für Schritt war der Laufsteg der Wilmersdorfer Witwen einer Verjüngungskur unterzogen worden, ohne dabei dem Jugendkult zu verfallen wie in Mitte oder Prenzlauer Berg. Man hat die 70er-Jahre-Pavillons aus der Fußgängerzone geräumt, in die Seitenstraßen zogen neue Geschäfte, und plötzlich stand da das Hugendubel-Haus, ein gläsernes Versprechen, das die introvertierte Wilmersdorfer herausfordern musste. Das Experiment gelang. Ein Samstagsbummel ist kein Strafparcour mehr, sondern ein Vergnügen, das sich mit einem Glas Galao im Café Lisboa genussvoll beenden lässt.

Die überraschende Wandlung der Wilmersdorfer und die Wiederkehr des Kurfürstendamms sind aber nicht die bloße Wiederholung der Geschichte und damit Farce. Sie stehen vielmehr für eine Neuvermessung der Berliner Stadtviertel überhaupt. Je homogener Kollwitzplatz und Hackescher Markt werden, desto mehr kann sich Charlottenburg seiner Mischung rühmen. Und je jünger es im Osten, diesem Labor der Begegnung zwischen Ost und West, zugeht, desto mehr wird Charlottenburg zum Labor zwischen „altem“ und „neuem“ Berlin – im wahrsten Sinne der Wortes. In Charlottenburg probt die Stadt, wie es sich anfühlt in der alternden Gesellschaft. Auch das der Zukunft zugewandt.

Was wir schon geahnt haben. Mancherorts fühlt sich diese Zukunft nicht gut an. Im Westend und rund um die Mommsenstraße altert sich das gutbürgerliche Berlin langsam, aber unausweichlich in die Starre. In Charlottenburg-Nord, rund um den Mierendorffplatz, findet man immer noch die höchste Dichte an Märklin- und Zoogeschäften pro Quadratkilometer Berlin, und am Klausener Platz ist zwar die Sanierung zu Ende, die Sanierungsziele wie die Integration aber sind geblieben.

Doch schon ein paar Ecken weiter sieht man: 300 Jahre nach seiner Gründung hat sich Charlottenburg, dieses Chamäleon, ein neues Kleid angezogen. Schick, wie in der Leonhardstraße, teuer, wie am oberen Ku’damm, alltagstauglich wie beim Marktgang am Carl-August-Platz. Selbst am Bahnhof Zoo entsteht eine neue Mischung: Die neuen Backpacker-Hostels sind genauso nah am Ku’damm wie das künftige Nobelhotel Concorde. Und die Jebenstraße gehört nicht mehr nur den Obdachlosen, sondern auch den Helmut-Newton-Fans. Sophie Charlotte, die viel zu früh Gestorbene, hätte sich gefreut.