Strohpolis in der Altmark

Bewohner der Modellsiedlung Sieben Linden in Sachsen-Anhalt kamen wieder auf uralte Bautechniken: Jetzt wurde ein dreistöckiges Wohnhaus für 20 Leute aus Holz, Stroh und Lehm fertig

VON HARALD LACHMANN

Clara und Sonja spielen im Stroh. Auf Knien kriechend, kleiden sie Puppen ein. Überall liegen Kleidchen, Jäckchen, Jüpchen herum. Doch bahnt sich hier kein Stress für ihre Mütter an. Zwar mangelt es ringsherum wahrlich nicht an Stroh: in den Wänden, der Decke, im Boden. Doch man sieht es nicht. Die Halme stecken als Ausfachung in Holzständern, als Dämmung in Dach und Wänden.

Die Siebenjährigen leben in einem Haus aus Stroh, drei Etagen hoch und mit einem mediterranen Laubengang versehen. Und mit ihnen weitere 20 Leute, junge und ältere, die alle endlich Mal „in einem richtigen Neubau wohnen“ wollten, wie es Julia Kommerell nennt. Die Illustratorin teilt sich mit mehreren Müttern und Kindern eine 7-Zimmer-WG im ersten Obergeschoss – Wohnküche, Bäder, Diele inbegriffen. Zufrieden schwärmt die 34-Jährige vom „edlen Naturmaterial“ und den „dicken Wänden, die ein Flair erzeugen wie in einem alten Landhaus“.

Eben erst nahm Julia hier Quartier. Zuvor redete sie bei der Gestaltung mit, packte hart beim Bau an. Denn die Idee fand sie stets toll: „Das ist solides Bauen!“ Zuvor lebte sie in einem schlichten Bauwagen. Viele der 70 Bewohner in Sieben Linden bei Klötze bevorzugen bis heute diese karge Wohnweise. „Doch die Zahl der Bauwagen soll nicht wachsen“, erzählt Eva Stützel von der Wohnungsgenossenschaft in Sieben Linden, die den ungewöhnlichen Mietblock bauen ließ. Sie gehört zu den Gründerinnen der sozial-ökologischen Modellsiedlung, worin dereinst knapp 300 Menschen einvernehmlich mit ihrer Umwelt leben sollen. Dazu schaffe man im Dorf „kleine geschlossene Lebens- und Konsumkreisläufe, damit uns unser Tun möglichst direkt mit all seinen Auswirkungen gegenüber der Natur konfrontiert“, so die 40-Jährige. Und dazu gehöre auch die Herstellung nötiger Baustoffe.

Der Zuzug in Sieben Linden ist so groß, dass das Strohballenhaus mit seinen gut 530 Quadratmeter Wohnfläche schon vermietet war, bevor es stand. Darum kam den Ökodörflern auch die Idee mit „Strohpolis“. Mithin soll ihre räumliche Ausdehnung fortan vollends und ihre gewerbliche Zukunft zumindest teils auf Stroh gründen. Neue Häuser sind nicht nur geplant, mittlerweile steht schon das hölzerne Konstruktionsgerüst für ein drittes. Ein kleines zweietagiges wurde schon 2003 bezogen.

Strohpolis ist Teil der Modellregion Altmark im Rahmen der vom Bund initiierten Projektkette „Regionen aktiv“. Denn die Sieben-Lindener wollen keine industriellen „Ökohäuser“. Also orderten sie Stroh vom lokalen Bauern, Holz aus der Region und Handwerksleistungen im Nachbardorf.

„Wir wollen die Menschen hier finanzieren und nicht eine weit entfernte Industrie“, so Julia. Am Ende floss von den Kosten für das Haus, die mit 715.000 Euro „leicht über den Erwartungen“ lagen, knapp die Hälfte in Baumaterial. Und mit 360.000 Euro beglich man die Arbeitsleistungen der Erbauer, „wovon der allergrößte Teil im Ökodorf blieb“, freut sich Eva.

Längst erregt das Projekt, eines von bundesweit elf Pilotvorhaben der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie, weithin Aufsehen. Denn nirgendwo im Lande entstand ein größeres Wohnhaus einzig aus Holz, Stroh und Lehm. Die Bauleitung oblag Dirk Scharmer, einem jungen Architekten aus Lüneburg, der auch einen Fachverband Strohballenbau leitet. „Heute gibt es in Deutschland zwölf Wohnhäuser, die aus Strohballen gefertigt sind, weitere zwölf entstehen gerade“, berichtet er.

Unter Scharmers Leitung verfüllten die Strohhausbauer mit spritzmittelfreien Strohballen die Balken und Sparren einer Holzständerkonstruktion. Diese hatten sie auf betonierten Streifenfundamenten errichtet, praktisch ihr einzige Zugeständnis an die Industrie. Ansonsten könne man das ganze Haus, falls es in ein, zwei Jahrhunderten nicht mehr bewohnbar sei, „auf dem Komposthaufen entsorgen“, so Burkard Rüger, der Lehmbauexperte des Unterfangens. Auch innen sei alles mit Lehm geputzt, als Dämmmaterial dienten auch Hanf und Flachs.

Man wolle mit Strohpolis den Beweis antreten, dass sich aus verputzten Strohballen-Ständerbaukonstruktionen „kostengünstiger, verdichteter, gesunder Wohnraum schaffen lässt“, so Scharmer.

Der Architekt sieht das Thema indes erst am Anfang. Denn gerade Dank Strohpolis sei es nun viel leichter, in Deutschland ein Wohnhaus aus Strohballen bewilligt zu bekommen. Es bedürfe nur noch – neben dem Bauantrag – einer Einzelgenehmigung der Landesbaubehörde, was das Prozedere um etwa vier Wochen verlängere und ein paar hundert Euro teurer mache. Doch zumeist behandelten die Ämter solche Anliegen heute „recht wohlwollend“. Denn eine Reihe amtlicher Prüfzeugnisse, die lehmverputztem Stroh gute Wärmedämm- und Brandschutznoten geben, wurden über das „Regionen aktiv“-Projekt bereits erbracht. Nun fehlten noch Schimmeltests, dann dürfte dieser Technologie auch die allgemeine bauamtliche Zulassung zuerkannt werden, so Scharmer.

www.siebenlinden.de; www.fasba.de