Orchideen sind kein Ersatz

AUS PORT LOUIS UND DER JÜLICHER BÖRDE DANIELA WEINGÄRTNER

Von Mon Tresor weht ein Duft herüber wie von Karamell und heißen Artischocken. Mit bedächtigen Bewegungen schlägt die 57-jährige Nidhendra Soowamber mit ihrer Machete das Rohr auf einem Feld nahe der Zuckerfabrik. Sie ist klein und dick, Schweiß rinnt unter ihrem zerfetzten Jeanshut hervor. Doch sie macht die Arbeit gern. Um elf, wenn es richtig heiß wird, kann sie zurück nach Hause und ihren Mann bekochen, der seit einem Unfall vor fünf Jahren nichts mehr verdient. Seither kommt Nidhendra als Tagelöhnerin auf den Feldern der Nachbarn unter. Mit 130 Rupien, 5,50 Euro, pro Erntetag ist sie nur halb so teuer wie ein Mann. Außerdem wollen alle im Dorf helfen, dass die Familie über die Runden kommt.

Vom Zuckerverkauf in Europa hängt auf Mauritius ein fein abgestimmtes Sozialgefüge ab. Werden die Preise, wie von der EU-Kommission geplant, um fast vierzig Prozent gekürzt, wird Nidhendra arbeitslos. „Was halten Sie eigentlich von Frau Mariann Fischer Boel?“, fragt uns Rishy Bukoree bei der Ankunft auf dem Flughafen von Mauritius in makellosem Englisch. 13 Flugstunden von Europas Hauptstadt entfernt, auf einer kleinen Insel im Indischen Ozean irgendwo zwischen Madagaskar und der afrikanischen Küste, wirkt die Frage etwas surreal. Doch bei der Fahrt vom Flughafen in die Bürostadt Port Louis, auf exzellenten Straßen, vorbei an glitzernden Hochhauskomplexen, wird schnell klar, dass das Bild von der armen Zuckerinsel revidiert werden muss. Mauritius hat das Geld aus Brüssel gut angelegt. Kein Wunder, dass die dänische EU-Landwirtschaftskommissarin hier genauso bekannt ist wie bei den Zuckerrübenbauern in der Jülicher Börde.

Rishy Bukoree ist typisch für die hiesige Mittelschicht. Der 28-jährige Hindu war in seinem Leben schon Lehrer, Journalist, hat Gedichte veröffentlicht auf Englisch, Französisch und Kreolisch. Derzeit arbeitet er im Landwirtschaftsministerium. Deshalb hat er keine Zeit mehr für die Kunst, denn sein Chef, Landwirtschaftsminister Arvin Boolell, ist Sprecher der Zuckergruppe der Afrikanisch-Karibisch-Pazifischen Staaten, die im EU-Jargon kurz APK-Staaten genannt werden. Statt mit Poesie befasst sich Bukoree nun mit Brüsseler Prosa: der EU-Zuckermarktordnung und ihrer Unvereinbarkeit mit den Regeln der Welthandelsorganisation.

Gespür für die sensible Rübe

Schade dass er Bernhard Conzen nie kennen lernen wird. Zu erzählen hätten sich die beiden eine ganze Menge. Conzen besitzt einen 400 Jahre alten bäuerlichen Betrieb in der Jülicher Börde. 2.000 Tonnen Zuckerrüben erntet er jedes Jahr, das bringt 48.000 Euro Gewinn. Für den Katholiken ist die Landwirtschaft kein Job wie jeder andere. „Ich sehe einmal im Jahr einen ganzen Lebenszyklus.“ Sein Sohn Christian hat das Gespür für den Boden geerbt. „Der kann es unterm Gummistiefel fühlen, ob der Acker gut ist“, sagt sein Vater stolz.

Doch wenn Mariann Fischer Boel sich mit dem Plan durchsetzt, den Rübenpreis um 42 Prozent zu senken, wird er ihn nicht Landwirtschaft lernen lassen, sondern Banker. Dann fressen die Energiekosten, die Löhne und die teuren Maschinen den Gewinn auf. Mit den riesigen Zuckerrohrflächen in Brasilien können die ungünstig geschnittenen Felder in der zersiedelten rheinischen Landschaft nicht konkurrieren.

Die Jülicher Börde ist eine flache Gegend, wo Legohäuschen aus rotem Klinker die Landschaft beherrschen. „Das sind die fruchtbarsten Böden der Welt“, sagt Conzen stolz. Seinen Maschinenpark wartet er selber, den Grubber, die Maus und den 150.000 Euro teuren High-Tech-Mäher. Jetzt im November haben die Laster und Trecker nur ein Ziel: Sie bringen ihre empfindliche Fracht in die Zuckerfabrik nach Jülich. „Die Zuckerrübe ist sehr sensibel“, sagt Conzen ernst. „Kalte Nächte, warme Tage – das mag die Rübe gern.“

Das Zuckerrohr hingegen ist ein robustes Gewächs. Als 1945 ein Hurrikan über Mauritius fegte, wurde die Maisernte auf den Plantagen völlig zerstört. Der Zuckerertrag ging in diesem Jahr um mehr als die Hälfte zurück, doch die Pflanzungen erholten sich wieder. Seit über hundert Jahren suchen die Agraringenieure im Institut für Zuckerforschung nach marktfähigen Alternativen. Doch die Zyklone, die mehrmals jährlich über die Insel toben, machen alles platt. Orchideen, Brokkoli, Kürbis – alles haben sie ausprobiert, seit klar ist, dass die Preise für Rohzucker drastisch fallen werden. Doch nur das Zuckerrohr hält den Stürmen Stand.

Mannshohe Pflanzen so weit das Auge reicht. Fast die Hälfte der Inselfläche ist mit Zuckerrohr bedeckt. Wer mit Zucker zu tun hat, entwickelt eine Liebe zur Geschichte. Das liegt wohl daran, dass das „weiße Gold“ früher knapp, begehrt und teuer war. Zuckerbauern waren umworbene Leute. Schon im 17.Jahrhundert brachten holländische Siedler das Zuckerrohr von Java nach Mauritius. 1919 vereinbarte das Land das erste Zuckerabkommen mit den britischen Kolonialherren. In Europa hungerten damals nach dem ersten Weltkrieg die Menschen. „Nicht wir haben das Zuckerrohr gewählt. Der Zucker hat sich Mauritius ausgesucht“, sagt Rishy Bukoree.

Doch ebenso wie in der Jülicher Börde machen auch auf Mauritius die Brasilianer mit ihren billigen Löhnen und den hochtechnisierten Methoden das schöne Zuckergeschäft kaputt. Die Globalisierung hat Mauritius erwischt, sie wütet schlimmer als ein Zyklon. Erst wurde der Textilmarkt für die Billigkonkurrenz aus Asien geöffnet, jetzt ist der Zuckermarkt an der Reihe. Die Arbeitslosigkeit stieg in den letzten fünf Jahren von 8 auf 11 Prozent. Um den Wettlauf gegen die sinkenden Preise zu gewinnen, müssen sie hier genau das zerstören, was sie eigentlich bewahrenswert finden: Die Kulturlandschaft und ein soziales Gefüge, in dem Inder, Chinesen, Schwarze und alte europäische Pflanzerfamilien nach unruhigen Zeiten nun friedlich nebeneinander leben.

Ein Viertel der 1,2 Millionen Einwohner hängt direkt oder indirekt von der Zuckerproduktion ab. Mit dem Gewinn hat die Regierung ein vorbildliches Sozialsystem aufgebaut. Die Zuckerproduktion sorgt für Jobs, Wohnungen, medizinische Betreuung, Kindergarten und Schultransport. Großzügige Sozialgesetze, von denen Harz-IV-Empfänger nur träumen können, federn den Übergang in die Frührente ab.

Turbomäher statt Arbeitsplätzen

Doch seit der Ölpreis explodiert ist, fressen die Kosten einen Teil der Gewinne auf. Deshalb zerknacken überall auf der Insel mächtige Steinbrecher das Geröll, um die Qualität der Böden zu verbessern und die Flächen maschinentauglich zu machen. Mit 10,5 Millionen Euro fördert die EU ein Bewässerungsprojekt, das die Erträge der Zuckerfabrik Mon Tresor steigern soll. Bald wird nur noch ein Mann gebraucht, der ein Gelände aberntet, in dem heute noch Hunderte Arbeit finden. Wie Bernhard Conzen wird er ganz allein hoch oben auf dem Turbomäher sitzen.

Parbotia Rakess bewirtschaftet sein kleines Stück Land schon in dritter Generation. Er kommt nur über die Runden, weil seine Frau eine Anstellung als Sekretärin hat. Glaubt er, dass auch seine Kinder noch auf diesen Feldern arbeiten werden? Der junge Schwarze lacht traurig. „Kinder können wir uns nicht leisten.“ 2.000 Rupien, gut 80 Euro, verdient er im Monat. Dazu kommt das Gehalt seiner Frau, 3.000 Rupien. Wollten sie zum Beispiel zwei Kinder auf gute Schulen schicken, brauchten sie monatlich das dreifache.

35.000 Kleinbauern leben auf Mauritius heute noch ganz oder teilweise vom Zuckeranbau. Ihre winzigen Parzellen, oft kleiner als ein Hektar, sind schon jetzt nicht mehr rentabel. Um eine weitere Verschärfung der Lage zu verhindern, fordert Landwirtschaftsminister Arvin Boolell von Brüssel eine weniger drastische Reduzierung der Subventionen: „Sonst bekommen wir einen sozialen Aufstand“, sagt er.

In Jülich überlegen sie, wie es weitergehen soll, wenn Brüssel mit den Liberalisierungsplänen Ernst macht. „Wenn ich vernünftig denken würde, ließe ich die Finger davon“, sagt der junge Gregor Zdriliak, der demnächst die Tochter eines Rübenbauern heiraten will. Und sein älterer Nachbar Ripphaus meint melancholisch: „Es macht keinen Spaß mehr. Das Einzige, was noch gut lief, war die Zuckerrübe.“ Er habe nur zwei Zwillingsmädchen, erklärt Ripphaus ernst. Am Stammtisch werde er deshalb oft bedauert. „Aber wer will sich da ernsthaft noch ne Jong anschaffen, wofür denn, als Hofnachfolger vielleicht?“

In der Abenddämmerung fahren die Bauern ihre erdverschmierten Rüben zur Waage der Zuckerfabrik. Während der Ernte wird bis in die Nacht gearbeitet. 1801 wurde in Unterschlesien die erste Zuckerfabrik gebaut. Erst 50 Jahre zuvor hatte ein deutscher Wissenschaftler entdeckt, dass aus Rübensaft die gleichen Kristalle gewonnen werden können wie aus dem Zuckerrohr. Wenn es kommt wie in Brüssel geplant, dann müssen im Rheinland zwei Drittel der Betriebe dichtmachen, davon ist Conzen überzeugt. Nachdenklich schaut er auf die lange Reihe Rübenlaster: „Dann ist hier in zehn Jahren nur noch Wald.“

Nah am Äquator wird es früh dunkel. In den Dörfern sind die Tempelchen vor den weiß gekalkten Häusern erleuchtet. Im Vorbeifahren gelingt ein Blick in einen kerzengeschmückten Innenhof. Ein Netz aus bunten Folienstreifen flattert im Wind. Frauen in bunten Saris sind unterwegs, um Divali zu feiern – den Sieg des Guten über das Böse, Dank für Wohlstand und für eine gute Ernte. In Jülich macht sich Ripphaus mit den Zwillingen auf den Weg zum Martinszug.