Unter Sachkennern der Szene

Reichen 345 Euro Sozialhilfe für ein menschenwürdiges Leben? Selbstverständlich. Alles eine Frage der Statistik. „Chart 18, bitte“, sagt Staatssekretär Franz Thönnes. Ein Bericht aus der kühlen Welt des Bundesarbeitsministeriums

VON JENS KÖNIG

„Guten Tag, meine Damen und Herren“, sagt Franz Thönnes. „Die Sachkenner der Szene wissen, dass dies eine komplexe Materie ist. Und Sie alle sind Sachkenner der Materie.“

Die Journalisten nicken. Sie haben schon schlimmere Beschimpfungen über sich ergehen lassen müssen.

Die komplexe Materie, um die es heute geht, ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003, unter den Sachkennern der Szene nur EVS genannt, sowie deren Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Regelsatzbemessung in der Sozialhilfe. Es versteht sich von selbst, dass man hier ohne spezielle Kennerschaft nicht weit kommt.

Thönnes geht zunächst ins Grundsätzliche. Sicher ist sicher. „Um dem Verfassungsauftrag des Sozialstaates gerecht zu werden“, sagt er, „werden im Rahmen der Sozialhilfe Hilfsbedürftigen die erforderlichen Mittel zur Führung eines menschenwürdigen Lebens und zur Abdeckung des soziokulturellen Existenzminimums zur Verfügung gestellt. Dies erfolgt auf der Grundlage des SGB XII. Der hierfür notwendige Bedarf wird durch den Regelsatz abgedeckt, er umfasst Leistungen insbesondere für Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens.“

Das klingt doch schon mal ganz schön. So hell und optimistisch und gar nicht kompliziert. Menschenwürde – das ist es doch schließlich, worum es hier geht. Gut, wer es sich einfach machte, würde vielleicht von wachsender Armut reden. Von einer seit Jahren stagnierenden Sozialhilfe, trotz wachsender Preise und höherer Steuern. Von immer größer werdenden Schwierigkeiten der Schwachen unserer Gesellschaft. Aber Thönnes macht es sich nicht einfach, nicht bei dieser komplexen Materie.

Thönnes ist Politiker. SPD-Politiker. Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium. Zuständig für Rente, Unfallversicherung und Sozialhilfe. Müntes Sachkenner der Szene. Und da Münte, der Minister, heute nicht kann oder nicht will, muss Thönnes ran.

Nicht Franz Müntefering sitzt also an diesem Mittwochnachmittag im schmucklosen Raum 111 des Bundesarbeitsministeriums, sondern der frühere Gewerkschaftssekretär Franz Thönnes aus Schleswig-Holstein. Dass er in seinem Wahlkreis in Bad Segeberg Mitglied der Amerikagesellschaft ist, tut heute nichts zur Sache. Thönnes redet über Deutschland. Über den deutschen Sozialstaat, dem nichts wichtiger ist als die Würde seiner Bürger. Über die neuen Regelsätze für die Sozialhilfeempfänger in unserem Land.

Gegenwärtig bekommt ein Sozialhilfeempfänger in Westdeutschland 345 Euro pro Monat und in Ostdeutschland 331 Euro. Die Höhe dieser Regelsätze hat die alte Regierung auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe von 1998 festgelegt. In dieser repräsentativen Befragung werden alle fünf Jahre 53.000 Haushalte in Deutschland zu Einnahmen und Ausgaben, Wohnsituation, Ausstattung mit technischen Gebrauchsgütern sowie zu Vermögen und Schulden befragt. Jetzt liegen die Auswertungen der Studie von 2003 vor. Also werden die Regelsätze neu festgelegt.

Sie gelten für momentan 600.000 Sozialhilfeempfänger – sie bilden aber auch die Referenzgröße für die Festlegung des Arbeitslosengeldes II. Dies wiederum betrifft 5,5 Millionen Menschen. Von den Regelsätzen, die offiziell das soziokulturelle Existenzminimum ausmachen, hängen mittelbar auch die Pfändungsfreigrenze sowie Leistungen für Asylbewerber ab.

Das, worüber der Herr Staatssekretär die ganze Zeit redet, ist also überlebenswichtig für über elf Millionen Menschen in Deutschland. Das macht Thönnes nicht nervös. Der 52-Jährige spricht ein selbstbewusstes Politikerdeutsch. „Wir arbeiten immer mit konkreten statistischen Daten, die sich aus konkretem, praktischem Verhalten der Verbraucher herausfiltern lassen“, sagt er. In seiner Welt der Ministerien und Beamten ist stets alles objektiv. Exakt bemessen. Korrekt festgesetzt. Vielleicht nicht nah am Leben, aber darauf kommt’s ja auch nicht an. Auf jeden Fall ganz nah an der statistischen Bemessung des Lebens.

„Nehmen Sie doch bitte mal Chart 18 zur Hand“, sagt Thönnes. Die Journalisten nehmen Chart 18 zur Hand. Auf Seite 18 des ausgeteilten Pressematerials hat der Staatssekretär seine Beamten mit vielen Prozentzahlen und Pfeilen aufmalen lassen, wie die Änderungen der Prozentsätze der EVS-Abteilung 07 des Regelsatzes im Vergleich von 1998 zu 2003 zustande kommen. 07 ist die Abteilung Verkehr. „Die Gesamtausgabe der Abteilung 07 betrug im Jahre 2003 59,36 Euro“, erklärt Thönnes. „Davon sind regelsatzrelevant 15,71 Euro, also 26 Prozent. Auf das Zubehör und die Ersatzteile für Fahrräder entfielen davon 1,01 Euro. Da wir davon jetzt 100 Prozent übernehmen, sind diese 1,01 Euro auch komplett im Regelsatz enthalten.“

Die Sachkenner der Szene schauen sich fragend an. Dieses Stück Materie war jetzt etwas überkomplex.

Daraufhin stellt eine Journalistin eine fast unverschämte Frage. Die Frage entstammt direkt dem Leben armer Menschen. Ob es es denn sein könne, will die Journalistin wissen, dass die Sozialhilfeempfänger nur deswegen weniger Geld für Bus und Bahn ausgeben als früher, weil ihnen dieses Geld einfach fehle. Thönnes überlegt einen Moment. „Das ist theoretisch möglich“, sagt er.

Aber diese Aussage passt nicht in seine Welt. Sie ist zu vage. „Wir reden hier nicht darüber, ob etwas teurer geworden ist“, schiebt der Staatssekretär hinterher. „Wir reden darüber, wie eine bestimmte Leistung von den Verbrauchern abgefragt worden ist. Das ist ein weitgehend objektives Element.“

Genau darin besteht das Problem. Viele Experten von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden kritisieren die Methode, mit deren Hilfe die Regelsätze für die Sozialhilfe festgesetzt werden. Zugrunde gelegt für die Berechnungen werden immer nur die ärmsten 20 Prozent der Einpersonenhaushalte. Wenn diese aber immer ärmer werden, also immer weniger ausgeben, kann der Regelsatz für die Sozialhilfe auch nicht steigen – es sei denn, es ist politisch so gewollt.

Wie in diesem Jahr. Die komplizierte, monatelange statistische Auswertung des Verbraucherverhaltens 2003 hat ganz zufällig einen Regelsatz von 344,52 Euro ergeben. Aufgerundet macht das 345 Euro, und zwar für Ost und West. Exakt so viel, wie das Arbeitslosengeld II beträgt. Das ist für das SPD-geführte Arbeitsministerium wichtig, weil Union und Teile der Wirtschaft eine Absenkung dieses Arbeitslosengeldes II fordern. Mit der Festsetzung des neuen Sozialhilfe-Regelsatzes von 345 Euro hoffen die Sozialdemokraten, die Kürzungsdebatte beendet zu haben.

Diese 345 Euro sind für Thönnes also ein Riesenerfolg. „345 Euro gewährleisten ein menschenwürdiges Leben“, sagt er. Alles darunter wäre in seiner Logik also menschenunwürdig. Also nicht hinnehmbar. Einige Journalisten glauben nicht an den rechnerischen Zufall. „Wir setzen nicht den Regelsatz bei 345 Euro fest“, erklärt der Staatsekretär. Er ist jetzt schon deutlich unzufrieden mit den Kennern der Szene. „Wir setzen nur die einzelnen Prozentsätze der relevanten EVS-Abteilungen fest. Und deren Summe ergibt eben 344,52 Euro. Dieser Betrag wiederum wird nach einem genau festgelegten Verfahren gerundet. Herr Semrau kann Ihnen dieses Rundungsverfahren genau erklären.“

„Bitte nicht“, stöhnen einige Journalisten. Peter Semrau kennt jedoch keine Gnade. Er ist Referatsleiter im Arbeitsministerium. Er hat einen Auftrag seines Chefs. Er erklärt jetzt ganz genau das Rundungsverfahren. Wer nicht zwanzig Semester Statistik studiert hat, schaltet ab.

Als Semrau fertig ist, fragt ein Journalist, wo eigentlich die Transparenz bleibe, wenn der Staatssekretär nur die Prozentzahlen der EVS-Abteilungen herausgebe, nicht aber die genauen Euro-Beträge. „Sehr gut, dass wir darüber noch mal transparent reden können“, sagt Thönnes. „Nehmen Sie Chart 12, bitte. Ich diktiere Ihnen die Zahlen.“ Und Thönnes diktiert. 127,31 Euro für Abteilung 01, 34,23 Euro für Abteilung 03, 24,49 Euro für Abteilung 04 …

Zahlen. Nichts als Zahlen.

Das Wort „Armut“ fällt in Raum 111 des Bundesarbeitsministeriums an diesem Tag nicht ein einziges Mal.