Leipzigs junger Bandenterror

Handys werden geraubt, Schüler haben auf dem Nachhauseweg Angst: In Leipzig wird über neue Formen von Jugendgewalt diskutiert. Es geht nicht um rechts und links, und neuerdings sind auch Gymnasien eines eher bürgerlichen Viertels betroffen

AUS LEIPZIG MICHAEL BARTSCH

Stefan* ist dem Überfall in der Nacht des 12. Mai ohne Blessuren entkommen. Etwa 60 Schüler des Leipziger Schiller-Gymnasiums hatten im Parkgelände Rosental unweit des Zoos eine überstandene Abiturarbeit feiern wollen, als gegen Mitternacht ein muskelbepackter Kerl auftauchte. Offensichtlich stand er unter Drogeneinfluss. „Der lallte etwas von einer Belästigung seiner Freundin. Wir sollten verschwinden, sonst gäbe es eins auf die Fresse.“ Nicht alle registrierten das. Sie blieben. Plötzlich stürmten knapp 20 Schläger herbei. Sie kamen in zwei Wellen. Schlugen, traten, droschen zu. Einige Minuten später krümmten sich Verletzte mit Schnittwunden, Prellungen und ausgeschlagenen Zähnen auf der Wiese.

Stefan und seine Mitschüler sind sich sicher: Es waren Hooligans des inzwischen pleite gegangenen DDR-Traditionsklubs 1. FC Lok Leipzig. Alle trugen Schals in den Vereinfarben Blau-Gelb. Der Überfall der Hooligans auf die Schüler des Schiller-Gymnasiums lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Phänomen, das plötzlich auch die eher bürgerlichen Wohngegenden der Stadt betrifft: Seit einigen Monaten überfallen und attackieren Jugendbanden ihre Altersgenossen.

Die Leipziger, bislang eher an Naziaufmärsche und Gegenproteste gewöhnt, sind verunsichert. Jetzt geht es nicht mehr um die Konfliktlinie rechts und links. Die Jugendgewalt breitet sich jenseits politischer Lager aus. Offener Raub von Geld oder Handys gehört für Stefan und seine Mitschüler inzwischen zum Alltag. „Das fängt schon in der sechsten Klasse an“, sagt Stefan. Zentrum der jugendkriminellen Verbindungen soll allerdings nicht das Gymnasium, sondern die benachbarte Coppi-Mittelschule sein.

Jetzt reden auch die Schulleiter des nahe gelegenen Heisenberg- und des Leibniz-Gymnasiums im gleichen Stadtteil offen von Terror. Von Schülern, die sich nicht auf den Heimweg wagen, weil draußen Schläger stehen. Von Hofpausen, die nur unter Polizeischutz zu überstehen seien. Aus Angst vor Rache trauen sich die meisten Schüler nicht, über ihre Demütigungen zu sprechen. Am Schiller-Gymnasium hat Schulleiter Heiner Wulfert ein Plakat aufhängen lassen: „Das Schweigen brechen.“

„Für uns ist diese Situation nichts Neues“, kommentiert Steffen Frömming, Leiter des Polizeireviers Leipzig-Nord. Der junge Kriminaloberrat blättert in seinen Akten und zieht Fälle hervor, die trotz der „hohen Dunkelziffer“ auf seinem Tisch gelandet sind. So hatte Schulleiter Wulfert für den Schulfasching Polizeischutz beantragt.

Übergriffe auf einzelne Jugendliche würden meist mit Provokationen wie „Hast du eben gelacht?“ eingeleitet. Manche Schüler werden per Handy in eine Falle gelockt. Es folgen Tritte und Schläge, in einem Fall wurde jemand zu zahllosen Liegestützen gezwungen. Ein stellvertretender Schulleiter, der zur Hilfe eilte, wurde angespuckt.

Frömming spricht von „fehlendem Unrechtsbewusstsein“ und „schwierigem sozialen Milieu“. Auch Rivalitäten zwischen Schulen und Jugendklubs spielten eine Rolle. Ein rechtsextremer Hintergrund aber könne ausgeschlossen werden. Offiziell ermittelt die Kripo gegen zwei „Gruppierungen“ im Leipziger Norden, deren Mitglieder zwischen 14 und 20 Jahren alt sind. Der Revierleiter will nicht überbewerten, dass unter ihnen drei Migrantenkinder aus der Türkei, dem Iran und Serbien sind, alle seien in Deutschland geboren.

Was kann man tun? „Ich rufe zur Zivilcourage auf“, sagt Kriminaloberrat Frömming. Streetworker sind wegen Umstrukturierungen und Einsparungen aus dem Stadtviertel abgezogen worden. Der Kriminalist verweist stolz, aber ein wenig naiv auf sein Präventionsprojekt. Einmal im Jahr spielen Polizisten und potenzielle Täter ein Fußballturnier um den „Nordpol-Cup“. Weit weg von den Wiesen, auf denen Abiturienten feiern.

* Name von der Redaktion geändert