„Die Unterschicht sieht ihn positiver“

Soziologieprofessor Emil Sobottka aus Brasilien über die unterschiedliche Wahrnehmung Ronaldos in seiner Heimat

taz: Herr Sobottka, hat Ronaldo das Zeug zum Sündenbock?

Emil Sobottka: Nein, jedenfalls nicht, solange kein entscheidendes Spiel ansteht. Das könnte sich höchstens ändern, falls herauskommt, dass sein Einsatz mit dem Sponsor Nike zu tun hat. Diese Verträge sind ja nicht öffentlich, aber schon 1998 wurde gemunkelt, dass er immer mindestens bis in die zweite Halbzeit hinein mitspielen muss. Wenn sich das als wahr herausstellen sollte, könnte sich die Öffentlichkeit gegen ihn wenden.

Wird er von den Armen anders wahrgenommen als von der oberen Mittelschicht?

Die Wahrnehmung in der Unterschicht ist viel positiver. Ronaldo hat da einen großen Bonus, weil er die ganzen Jahre gegen seine Verletzungen angekämpft hat und ein Sieger ist. Wenn er körperlich nicht so fit ist, heißt es in der Mittelschicht viel eher: „Der nimmt seinen Job nicht ernst.“ In der Arbeitswelt wird es ja heute fast als unmoralisch angesehen, wenn man nicht gesund ist – und diese Denkweise wird dann auf Ronaldo übertragen.

Ist der Fußball nun das große einigende Band zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten in Brasilien?

Nein. Die WM löst immer eine momentane Euphorie aus, aber das bleibt folgenlos. 1970 hat das Militärregime den Fußball am meisten instrumentalisiert und dadurch vielen von uns vermiest. Damals hieß es „Vorwärts Brasilien“ oder „Wir gehören zur ersten Welt“. Längerfristig hat der Fußball keine Auswirkungen auf die sozialen Verhältnisse, er ist weder „Opium des Volkes“, noch hält er die Gesellschaft positiv zusammen.

INTERVIEW: GERHARD DILGER