PETER UNFRIED über CHARTS
: Werde erwachsen, Alter!

Kalifornisches Tagebuch: Keine Ahnung, ob das Herz von Exvizepräsident Al Gore rein ist, das Herz seines Films ist es

Santa Cruz, Calif. Direkt hinter dem Haus, das wir gemietet haben, liegt ein Canyon. Da kommen jede Nacht zwei Waschbären raufgeklettert, um den Garten in Besitz zu nehmen, indem sie das Star-Spangled Banner hissen. Aber jetzt ist Nachmittag, und es kommen die Töne von „Light my fire“ rauf geweht. Ach! Sicher irgend so ein wunderbarer, nonkonformistischer Dude, der den Kapitalismus Kapitalismus sein lässt, grade vom Strand nach Hause gesurft ist, nun die essenziellen Doors-Tapes durchhört und heute Abend ins „Catalyst“ geht. Um dabei zu sein, falls Neil Young überraschend vorbeikommt. Das macht er gelegentlich. So alle 25 Jahre einmal.

Neil Youngs neuer Protestsong „Let’s impeach the President“ wäre mir vor kurzem noch etwas albern, zumindest naiv vorgekommen. Protestsong? Werde erwachsen, Alter. Aber im Independent Book Shop auf der Pacific Avenue verkaufen sie Uhren, auf denen Bushs Zeit rückwärts läuft. Im linksliberalen San Francisco Chronicle gibt es einen Kolumnisten, der einmal die Woche die Wut verhältnismäßig ungefiltert abbildet. Und je man länger liest, hört und in Kalifornien ist, desto klarer wird einem, wie verbreitet die ernsthafte Empörung ist. Und zugleich wie wenig verbreitet. Jedenfalls gibt es auch den Wunsch, dass das Lügen aufhören möge, die Sehnsucht nach grundsätzlicher Veränderung. Oder genauer gesagt: Die Sehnsucht, in sich selbst Kraft zu finden, die Resignation (alles blöd, aber was soll man machen?) zu verdrängen und in positive Energie umzuwandeln.

Aber wenn man in die Nähe von Floskeln wie „positive Energie“ kommt, ganz zu schweigen von absoluten moralischen Kategorien, dann wird es heikel und leicht pathetisch. Und wenn man eine Sekunde nicht aufpasst, findet man sich bei einem Popkonzert am Beach wieder, bei einem Sänger einer Band, die in Woodstock gespielt hat. Der erzählt einem seufzend, dass es früher eine Zeit gegeben habe, in der es noch Werte gab und die Menschen etwas zählten. Ach, richtig: die guten, alten Nixon-Jahre.

Eine Woche später kommt der nächste Bierbauch und sagt, er wolle uns mit zurücknehmen in die frühen 80er. Dann spielt er „I wanna go back“. Zu, hm, Reagan? Oder in die Zeit, als die Girls noch wegen ihm kreischten und nicht, weil sie sich im Strandstuhl verhakt haben mit ihren 120 Kilo (Coke-Becher in der Hand nicht mitgerechnet)? Es ist leicht, zynisch zu werden, und nicht jeder sieht das Positive noch so klar wie mein fünfjähriger Reisebegleiter („Wirklich, Hitler ist tot?“).

Deshalb habe ich Hochachtung vor Al Gore und seinem unlängst angelaufenen Dokumentarfilm „An Inconvenient Truth“. Der Film besteht im Wesentlichen daraus, dass der demokratische Senator und frühere Vizepräsident vor Studiopublikum die sich just vollziehende Klimaerwärmung erklärt. Es geht nicht darum, dass Al Gore bei der Präsidentschaftswahl 2000 eine Mehrheit hatte. Auch nicht darum, dass er plötzlich lustig und sympathisch wirkt. Und (zunächst) auch nicht darum, ob er 2008 noch mal antreten will. Es geht nicht um Kunst, es geht um etwas, beziehungsweise alles. Die simple Botschaft dieses Films ist: Wenn wir in den nächsten zehn Jahren so weiter machen wie bisher, ist der Planet im Arsch. Und Gore lässt dich nicht mit dem üblichen davonkommen, Bush, den doofen Politikern und dass man ja nichts machen könne usw.

Was immer Albert Gore Junior in seiner Zeit als Berufspolitiker getan oder nicht getan haben mag: Das Herz dieses Films ist rein. Seine Botschaft: Kioto, Wechsel des Stromanbieters, Bau vernünftiger Autos, Aktion der Politik – du musst ran. Du selbst. Das wird ein bisschen unbequem. Das Problem: Mit Revoltieren und Nonkonformismus ist es nicht getan. Wenn das nächste bzw. letzte große Ding die Rettung der Welt ist, hilft Surfen nichts, Rock ’n’ Roll nichts, Posen nichts, hilft Dagegensein nichts, Sichverweigern nichts. Schlimmer. Es hilft: Funktionieren. Und: Mitmachen. Dafür braucht es keine Jugendrevolte, keine Neolinke, keine Thinktank-Elite. Dafür braucht man Erwachsene. Bin ich einer? Das will ich jetzt doch mal wissen.

Fotohinweis: PETER UNFRIED CHARTS Fragen zum Protestsong? kolumne@taz.de Morgen: Arno Frank über GESCHÖPFE