Der lange Kampf gegen platte Klischees

taz-Serie „Bezirkssache“ (Teil 1): Marzahn-Hellersdorf ist ein Plattenbau-Bezirk im Umbruch. Der Bevölkerungsschwund scheint vorläufig gestoppt, und neben sanierten Hochhäusern entstehen beliebte Quartiere im Grünen. Die Linkspartei.PDS ist seit Jahren mit Abstand die stärkste politische Kraft

Die zentrumsnahen grünen Quartiere des Bezirks werden immer beliebter

VON RICHARD ROTHER

Am anderen Ufer des Habermannsees geht die Augustsonne unter. Ihre schon schwachen Strahlen berühren fast die Baumwipfel und tauchen das sandige Ostufer des Sees in mildes Abendlicht. Ein paar Schwimmer sind noch im Wasser, in Kürze bleiben dort Schwäne und Enten unter sich. Der Blick schweift herum und fällt auf wehende Weiden, das Kräuseln des Wassers, Wald und Wiesen – keine Plattenbauten, Industriebrachen oder Einkaufszentren. Dabei liegt der See, an dem sich kaum ein Klischee bestätigen lässt, in Marzahn-Hellersdorf. Zum Bezirk gehören eben nicht nur Großsiedlungen, sondern auch die aufstrebenden, grünen Häuslebauer-Quartiere Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf mit manch grüner Oase.

Erst auf den zweiten Blick erahnt man beim Umrunden des Baggersees, dass man sich am östlichen Stadtrand befindet: Ein Pärchen um die 50, das sich eben noch über Hartz IV unterhalten hat, geht nackt ins Wasser, ein Jugendlicher trägt ein Böhse-Onkelz-Hemd, und aus der Gruppe Karten spielender Jugendlicher dringen russische Satzfetzen herüber. Trotz der alles in allem durchschnittlichen Idylle am Badesee – der Bezirk kämpft seit Jahren um sein Image, vor allem aber gegen das Klischee von der öden Plattenbaugegend. Westdeutschen Studenten und Akademikern, die in behüteten Reihenhaussiedlungen aufwuchsen, gelten die Großsiedlungen und Plattenbauten als städtebauliches Verbrechen. Dass erst die an die Bauhausarchitektur angelehnten Wohnblocks die jahrhundertelange Wohnungsnot der breiten Bevölkerung linderte – und heute die Grundlage für günstige Mieten in Berlin oder Leipzig bilden – kommt ihnen dabei nicht in den Sinn.

Diesen politökonomischen Zusammenhang hat Hans-Jörg Muhs gar nicht im Visier. Er wirbt einfach nur für einen anderen Blick auf den Bezirk und leitet ein Projekt, durch das junge Hellersdorfer das Image ihres Bezirkes aufbessern wollen: mit Aktfotos, die im Bezirk aufgenommen wurden, und die an die braven Nacktbilder aus DDR-Zeiten erinnern. „Durch die Aktion beabsichtigen die Jugendlichen, den Vorurteilen gegen ihren Bezirk zu begegnen, und zwar durch sich selbst“, so Muhs. Sie stellten sich „frei, offen und tolerant“ dar, so wie man auch ihnen begegnen sollte. Nebenbei soll der Aktkalender Geld einbringen. Geld, mit dem eine feste Stelle für einen 23-jährigen 1-Euro-Jobber finanziert werden soll, der heute in einer Jugendbegegnungsstelle arbeitet.

Auch an anderer Stelle wird kräftig am Image des Bezirks gearbeitet – im stadtbekannten Orwo-Haus nahe der Landsberger Allee. Auf dem Gelände der einstigen Fabrik für Filmmaterial proben heute Dutzende Berliner Bands, ohne Nachbarn mit Lärm zu stören. Ende Juli feierte das Projekt, das im Bundeswettbewerb „Land der Ideen“ ausgezeichnet wurde, mit einer großen Party den „Erfolg aus zwei Jahren Überlebenskampf und ehrenamtlichem Engagement“, so die Betreiber. Nun wollen sie die bisher namenlose kleine Straße, an der das Orwo-Haus liegt, in „Frank-Zappa-Straße“ umbenennen. Es wäre die erste Berliner Straße, die nach einem Rock-Musiker benannt wäre – so hip kann wohl nur Marzahn sein!

Marzahn-Hellersdorf ist ein Bezirk im Umbruch. Größere Industriebetriebe gibt es kaum noch, dafür überdimensionierte Märkte an der B 1 und an der Landsberger Allee. Der größte davon, der unansehnliche Kaufpark Eiche, liegt vis-a-vis eines Hellersdorfer Wohngebiets, aber auf Brandenburger Gebiet. Das Einkaufszentrum demonstriert so, zu welch irrsinnigen Ergebnissen eine nicht abgestimmte Planung zwischen den Bundesländern führen kann: Die Berliner kaufen hier ein, das Land Brandenburg kassiert die Steuereinnahmen.

Auch die Bevölkerungstruktur des Bezirks, in dem während der letzten DDR-Jahre vor allem Facharbeiter und Ingenieure die begehrten Vollkomfort-Wohnungen ergattern konnten, befindet sich im Umbruch. Viele, die es sich leisten konnten, bezogen ein Eigenheim in den Berliner Ortsteilen und Brandenburger Gemeinden entlang der S-Bahn-Linie nach Strausberg, Jüngere zieht es nach Friedrichshain oder Prenzlauer Berg. Zuwanderer kommen vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion.

Zwar verliert Marzahn-Hellersdorf nach wie vor Einwohner, aber der Exodus hält sich in Grenzen. Dafür spricht unter anderem die relativ geringe Zahl abgerissener Plattenbauten. Im Bezirk wurden von ehemals rund 100.000 Wohnungen bislang gerade mal 2.600 plattgemacht, in anderen ostdeutschen Städten sind es deutlich mehr. Mittlerweile steigt sogar wieder der Kinderanteil der Bevölkerung. Grund dafür dürften auch neu errichtete Wohngebiete sein, entweder als moderne Fünfgeschosser oder als Reihenhäuser wie etwa in Biesdorf Süd.

Die zentrumsnahen grünen Quartiere des Bezirks werden immer beliebter. Kaum eine Baulücke, auf der noch keine Einfamilienhäuser oder Stadtvillen errichtet wurden. Wer im abendlichen Berufsverkehr mit der S 5 fährt, kann diesen Trend beobachten: An den Stationen Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf steigen jeweils mehr Menschen aus als am Bahnhof Wuhletal, der Hauptumsteigestation zur U-Bahn Richtung Hellersdorfer Wohngebiete. Vor 20 Jahren war es umgekehrt.

Wie überall in Berlin können Bezirksbürgermeister Uwe Klett (Linkspartei.PDS) und die Bezirksverwaltung, die in Marzahn-Hellersdorf von der PDS dominiert wird, die ökonomischen und demografischen Veränderungen begleiten, aber kaum grundlegend beeinflussen. Zudem ist die große Linie der Bezirkspolitik kaum umstritten: Die Bevölkerung soll möglichst gehalten werden, oder es sollen sogar neue Einwohner hinzukommen. Auch sollen Unternehmen angelockt werden. Entsprechend kleinteilig sind die Themen, um die man sich in der Bezirksverordnetenversammlung streitet: die Umbenennung von Straßen, die Unterstützung für ein Jugendprojekt, die Biografie einzelner Abgeordneter, Kürzungen im Kulturbereich.

Nicht einmal vor der Errichtung des neuen Marzahner Einkaufszentrums „Eastgate“, das im vergangenen Herbst öffnete, gab es eine nennenswerte Kontroverse – obwohl die Geschäftsinhaber einer nahen Ladenstraße vor dem Abzug von Kaufkraft warnten. Der Bedarf nach einem Shopping-Center, das so hässlich und zweckmäßig ist wie die Gropius-Passagen in Neukölln oder die Schönhauser-Allee-Arcaden in Prenzlauer Berg ist, war so groß, dass nur der Name umstritten schien: neumodisch anglizistisch oder traditionell „Marzahner Tor“. Die SPD-Fraktion sammelte sogar Unterschriften unter dem Motto „Das Gate auf Deutsch“.