Papa Schlumpf-Laokoon spielt noch mal

Was nach 50 Jahren Gezappel bleibt: Bazon Brock, Ästhetikprofessor und Philosophieclown, geht für die Anerkennung seines Lebenswerks noch einmal auf Tournee. Derzeit ist er mit seinem „Lustmarsch durchs Theoriegelände“ in Berlin. Seine „Schwere Entdeutschung“ ist auch ein rührendes Stillleben

VON HENRIKE THOMSEN

„Der ‚Schwätzer‘ Brock schien mir schon weit auf dem Weg fortgeschritten von der Schmähung zur Ehrung“, weshalb sie Bazon Brock zu seinem Kampfnamen adelte und sich aus dem vortragsfreudigen Schüler Jürgen, dem ein entnervter Griechischlehrer in Itzehoe den klingenden Spitznamen verlieh, in Bazon Phoenix Phlebas verwandelte. Heute bevorzugt Brock diejenigen, die seinen Rufnamen korrekterweise als „der Redner“ im Griechischlexikon nachschlagen. Mit 70 Jahren möchte er Anerkennung für ein Lebenswerk, von dem nicht sicher ist, ob es besser belächelt oder bewundert gehört. Um sich der Haben-Seite zu versichern, geht der Ästhetikprofessor und Philosophieclown, Schüler Adornos und geistiger Vater von Schlingensief, Erfinder der Documenta-Besucherschulen und Weggefährte Joseph Beuys’, noch einmal auf Tournee: elf Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in neun Monaten, in jeder Stadt an mehreren Tagen eine dreistündige Lecture in einem bunt ausstaffierten Raum. Berlin ist seit gestern dran. „Lustmarsch durchs Theoriegelände“ lautet der wunderbare Titel, aber es ist für Brock auch ein Gewaltmarsch. Die Frage nach der Haben-Seite treibt ihn um: „Was bleibt nach 50 Jahren Gezappel?“

Für seine Lecture hat Brock einen Raum zwischen Erinnerungsspeicher, Kunstinstallation und Geisterbahn entworfen, wie er von früheren „Theoriegeländen“ – 1997 etwa im Frankfurter Portikus – erinnert wird. Zuletzt saß das Publikum Ende Juli im Münchner Haus der Kunst zwischen einem Altar samt Grabbeigaben, einem Floß nach Géricaults berühmtem Schiffbrüchigen-Gemälde „Das Floß der Medusa“ (mit einem zusätzlichen Glas Ohrenstöpseln in Anspielung auf den gefesselten Odysseus am Mast) und einem Laufstall mit zwei großen Papa-Schlümpfen. Es gab ferner einen Kinderwagen mit Fischernetz; ein penibel eingerichtetes Wohnzimmer aus den Fünfzigerjahren; einen schattenhaften Salon aus dem 19. Jahrhundert, dessen Wände das Schlafprotokoll schmückt, das Cosima Wagner über die Nachtruhe ihres Gatten geführt haben soll. Es fanden sich Gemälde von Anselm Kiefer und Neo Rauch; ein Bild des sowjetischen Generals Schukow in napoleonischer Siegespose über dem zerstörten Berlin und Kleiderständer mit der „Pret à penser“-Linie des Meisters: Tafeln mit Brocks schönsten Aphorismen wie „Große Taten sind die unterlassenen“.

Der Raum sieht nach einem Stationendrama aus, das Brock allerdings nicht inszeniert. Die Dinge sind bloßer Anlass zu Reden; nachlässig, fast unlustig streift er sie, und die vielfältigen Verknüpfungen, die diese Requisiten stiften, sind nur zu ahnen. Die Karre und das Netz erinnern zum Beispiel daran, dass der Junge Jürgen zusehen musste, wie andere Kinder am Ende des Zweiten Weltkriegs in der Ostsee ertranken. Er selbst schaffte es in ein Rettungsboot. Brock gehört zu jener Kriegskindergeneration wie Axel Haacke, die – 10 bis 15 Jahre jünger als Günter Grass, Paul Celan, Joseph Beuys oder Bernhard Heisig – alt genug waren, die Diktatur der Nazis zu erleben. Um selbst Täter zu sein, waren sie freilich noch zu jung. Der Vater wurde als Hitler-Kollaborateur von den Sowjets liquidiert, zwei Geschwister starben offenbar an den Entbehrungen der Flucht. Doch Brock hat diese Biografie – anders als Beuys in seinen Survival-Installationen oder Heisig in seinen Soldatenbildern – nie direkt öffentlich gemacht. Im Gegenteil entwickelte er sich zum Generalisten, nahm Zuflucht im dialektischen Denken, das ihn früh zu dem Schluss kommen ließ: „Kein Faschist ist nur, wer von sich weiß, dass er durchaus einer sein könnte.“

Brock, der durch den Raum wandert, erinnert ein wenig an Grock, den Clown, allerdings der Frankfurter Schule entwachsen, mit langem Haar und graziöser Handbewegung. Seine Karriere begann 1957 mit der Veröffentlichung des Gedichtbands „Kotflügel, Kotflügel“, sein gleichzeitig aufgenommenes Studium der Philosophie bei Carl Friedrich von Weizsäcker in Hamburg setzte er bei Horkheimer und Adorno in Frankfurt fort. 1963 wollte er sich in dem Zoo einweisen lassen, als „Säugetier, aufrecht, kann sich sehen lassen und schaudenken“. Unter dem Motto „Wer stirbt, ist selbst schuld“ gründete er 1970 das Komitee zur Abschaffung des Todes. So prägte sich die Marke Brock ins kollektive Gedächtnis ein und verschaffte ihm Fans wie Joachim Lottmann, früher Pop-Literat, heute Spiegel-Feuilletonist. Lottmanns falsch tönende Hymnen auf den „Großmeister der Pop-Theorie“ sind für Brock vermutlich schlimmer als die zahlreichen Feinde, die ihn für überschätzt und überholt halten. Denn Bazon Brock ist keine Ikone cooler Selbstreferenzialität; bei allem narzisstischen Selbstdarstellungsdrang wird sein Werk nur im Kontext der Gesellschaftskritik nach 1945 wirklich verständlich.

Beuys ließ sich mit einem Coyoten einsperren, Brock hinterfragte mit seiner Zoo-Aktion das Deutschland von Adenauer und Filbinger: „Wer füttert schon wieder die Hyänen?“ Er hielt Vorträge im Kopfstand nicht aus reinem Aktionismus, sondern um „die in der Gesellschaftsgeschichte so bedeutsame Konfrontation von Stiefel und Gesicht“ zu demonstrieren. Die Fluxus-Mentalität der Nachkriegszeit und die Frage seines Lehrers Adorno, ob Kunst nach Auschwitz noch möglich sei, haben ihn gleichermaßen geprägt. Brock ist ein Eulenspiegel, der es ernst meint. Und er ist einer, der das Mittelmaß für sich akzeptiert. Sein Credo heißt „Selbstfesselung“ statt „Selbstentfaltung“: Nach der Erfahrung des Holocausts will er alles Ekstatische und Partikulare, die Brutalität des Individuums und der Völker, einhegen. Seiner Generation wirft er vor, mit ihrem Freiheits- und Selbstverwirklichungskult das Gegenteil forciert zu haben. Allem Anschein zum Trotz ist Brock kein 68er. Er spottet über Multikulti und bietet Modelle, die Globalisierung positiv zu denken: nicht als gleichmacherische McDonaldisierung, sondern als Wiedereinsetzen verbindlicher ziviler Codes und Standards, gegen einen entfesselten Selbstbehauptungswillen und eine überstrapazierte kulturelle Autonomie der Völker. Brock hat eine positive Idee des Imperiums als Zivilisationsmaschine. Seine Sympathien gelten eher dem Römischen Reich als Nationalromantikern wie Heinrich von Kleist. Kultur an sich hält er bestenfalls für banal, eher sogar für schädlich. Am liebsten weiß er sie im Museum, das für ihn kein Instrument des Kolonialismus und des Abtötens lebendiger Kunst ist, sondern ein Raum friedlicher Annäherung in nationalistisch aufgeheizten Zeiten: „Pro-Musealisierung als Containment-Strategie“. Sein bester Schüler allerdings kann kaum als gemäßigt gelten. Polit-Clown, Pilger und „Parsival“-Regisseur Christoph Schlingensief wäre ohne Brocks Schule, die sich zuletzt mit „Gralsrittern und Gottsucherbanden“ und den Gefahren eines neuen religiösen Fundamentalismus beschäftigte, nicht denkbar. Liebevoll nennen sich beide „Vater und Sohn“.

Vor den Notaten wie „R. hatte eine gute Nacht“ oder „R. schlief unruhig“ scheint Brock auf seinem Münchner Lustmarsch zu sich zu finden; scheinen Adornos „Versuch über Wagner“ und Goyas „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ in seinem Kopf ineinanderzufließen. In seinen ergreifendsten rhapsodischen Passagen klingt der Sound ein wenig nach Celan und dessen „Todesfuge“: „Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen … und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Bazon Brock ist ein Papa Schlumpf-Laokoon im Ringen mit den Schlangen der Geschichte, der Kunst und des Unterbewusstseins. Sein Projekt einer „schweren Entdeutschung“ hat etwas Rührendes, das als veraltet und gestrig abzutun wäre, respektierte man nicht im Hintergrund die Biografie, das Kindheits-Trauma, gegen das sich Phoenix Phlebas erhob und gegen das Bazon bis heute anredet.

Bei aller Geschwätzigkeit lässt sich der Lustmarsch doch als ein Stillleben begreifen. Als ein großes System der Symbole und ihrer Verschiebungen; als assoziative, unendlich artikulierte und beredete Collage, der dennoch etwas essenziell Verschlossenes, Stummes und Entzogenes anhaftet. Stillleben sind ein Memento mori. Bazon Brock, der auf den Tod, „diese verdammte Schweinerei“, stets hinreißend gespottet hat, ist ein alter Mann geworden. Auf der Tournee sammelt er Grabbeigaben für seine Generation und bittet die Zuschauer um Spenden dafür. Was bleibt nach 50 Jahren Gezappel? Ein Trickbild wie von Archimboldo, eine Gaukelmaschine wie von Tinguely, ein Merzbau wie von Schwitters. „Oh Kinder, guckt mal!“, ruft Bazon Brock, „Poesie in der Suppe, ich tue noch ein paar Botschaften dazu, vielleicht ergibt sich das Neue Testament.“

Bazon Brock: „Eine schwere Entdeutschung – Lustmarsch durchs Theoriegelände“, bis 11., Stadtperformances am 12. und 13. September, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, in Kooperation mit Contemporary Fine Arts