„Jeder tut, was er kann“

Marianne Fritzen ist eine Symbolfigur des Widerstands gegen die Castor-Transporte. Seit über 30 Jahren ist sie in der Anti-Atom-Bewegung aktiv. Auch am Wochenende hat Fritzen wieder protestiert – mit nunmehr 82 Jahren

INTERVIEW: KLAUS IRLER

taz: Frau Fritzen, Sie werden in der Presse gerne als „Grande Dame des Widerstands“ bezeichnet …

Marianne Fritzen: Nein, bitte nicht. Ich liebe diese Bezeichnung nicht. Dann bin ich schon lieber die Mutter, oder die Großmutter oder die Urgroßmutter des Widerstands, da ich die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg mitbegründet habe.

Wie hat sich der Widerstand verändert in den vergangenen Jahren?

Ich behaupte, dass sich der Widerstand nicht verändert hat. Wir haben jedes Jahr sehr viele kreative Veranstaltungen, es wird sehr viel Künstlerisches gemacht. Die Leute gehen auf die Straße, unsere Lokalzeitung ist voll von Anzeigen von den Gruppierungen im Landkreis und auch von sehr vielen Privatleuten. Jeder macht das, was er kann, in diesen Tagen.

Trotzdem findet ja auch ein Generationswechsel statt. Wie geht die jüngere Generation um mit den Protesten?

Ich finde es großartig, dass die Schüler so selbstbewusst sind. Es ist das, was man sich lange auch gewünscht hat. Zum Beispiel, dass die Schüler ihre Demo am Freitag für 9.30 Uhr geplant haben. Die Demo durfte dann erst nach Schulschluss stattfinden. Es hat sich dann aber die Elterninitiative hinter die Kinder gestellt und selbst eine Demonstration um 9.30 Uhr angemeldet.

Woher kommt dieses Selbstbewusstsein?

Ich glaube, dass das tradiert ist, denn die Eltern dieser Kinder sind ja auch im Widerstand groß geworden.

Im Lauf der Jahre haben Sie viel Erfahrung im Widerstand gesammelt. Was wäre Ihnen wichtig weiterzugeben an die nachrückende Generation?

Die Fragen sind: Was will ich als Individuum machen? Wie verhalte ich mich? Wie kann ich polizeilichen Maßnahmen entgehen? Wenn ich ihnen nicht entgehen kann, was habe ich dann zu tun? Ich bin der Auffassung: Man muss im Widerstand nicht unbedingt eine Opferrolle spielen. Das war auch ein Schwerpunkt bei meiner Rede am Freitag: Ich habe mich da an die Polizei gewandt und versucht, denen zu vermitteln, dass die Leute, die vor ihnen stehen, keine Kriminellen sind. Sondern dass sie dastehen, um auch für die eingesetzten Polizisten zu streiten. Das vergessen die meisten, weil immer dieses Freund-Feind-Bild da ist.

Früher gab es Jahre, in denen bis zu 30.000 Demonstranten erwartet wurden, dieses Jahr erwartet man 3.000.

Ich gebe nichts auf Zahlen. Natürlich haben sich die Zeiten auch geändert: Vor 30 Jahren sind die Leute aus der gesamten Bundesrepublik nach Hannover gekommen. Das kann man nicht erwarten. Es ist auch täuschend, denn der Widerstand ist vielfältiger geworden.

Inwiefern?

Sie können das im Programm im Internet sehen: Es gibt da beispielsweise Clowns oder Reiterstaffeln und es sind unglaublich viele Programmpunkte, die gleichzeitig stattfinden in diesem Jahr. Die Proteste beschränken sich nicht nur auf eine Demonstration. Das gibt dann ein falsches Bild, weil man immer nur Köpfe zählt. Aber eine Bevölkerung, die 30 Jahre lang durchgehalten hat, hat auch das Recht, nicht mehr nur an gezählten Köpfen gemessen zu werden.

Woher kommt Ihre Energie, jedes Jahr wieder dabei zu sein?

Man tut es, weil man es tun muss, weil man gar nicht anders kann. Obwohl ich jetzt auch meine gesundheitlichen Probleme habe und mir da Grenzen setzen muss.

Hatten Sie auch mal Momente in den letzten 30 Jahren, in denen Sie gemerkt haben: Ich werde jetzt langsam müde, jedes Jahr zu demonstrieren?

Nein. Aber ich werde jedes Jahr älter, und das bedeutet eine Einbuße an körperlichen Fähigkeiten. Ich habe zum Beispiel ein künstliches Knie, und mit dem Bein kann ich natürlich nicht so schnell rennen.

Was motiviert Sie mehr: Die Wut auf die Politiker, die den Willen der Bevölkerung vor Ort ignorieren oder die Angst vor dem Castor und seinen Risiken?

Im Grunde geht es mir darum, dass das, was dort geschieht, lebensbedrohend und lebensfeindlich ist. Was mich natürlich auch ärgert, das ist der Eiertanz der Politik: Ich ärgere mich maßlos, dass sich die Politik immer auf diese so genannten völkerrechtlichen Verträge bezieht. Aber der Vertrag zwischen der französischen Cogema und den deutschen Elektrizitätsunternehmen ist kein völkerrechtlicher Vertrag. Das ist ein Vertrag zwischen Industrieunternehmen und er könnte natürlich von der Bundesregierung bei Neuverhandlungen geändert werden.

Fühlen Sie sich von den Grünen im Stich gelassen?

Ich bin ja vor sechs Jahren aus der Partei ausgetreten und habe mit den Grünen nichts mehr zu tun. Ich habe innerlich meinen Frieden mit ihnen geschlossen. Sie machen ihre Arbeit, sind jetzt wieder in der Opposition und können wieder schreien. Jürgen Trittin hat bestimmt manches gut gemacht, manches aber hätte ich mir anders erhofft. Ich bleibe bei meiner Bürgerinitiative. Da fühle ich mich geborgener.