Der Kick, der Kids verhungern lässt

AUS BUENOS AIRES JÜRGEN VOGT

Jonni sagt lieber Pasta PBC oder pasta base zu der Droge, die sonst alle Paco nennen. Aber „das klingt so niedlich, wie ein Freund“. Jonni hat gelernt, Paco ist ein böser Freund. Mit 18 hat er angefangen, Pasta Base de Cocaina zu rauchen. 2000 war das, als die Droge in seinem Viertel La Boca in Buenos Aires auftauchte. Nach wenigen Wochen wog er 10 Kilo weniger.

Seit 2002 ist Jonni wieder clean, doch Paco hat seine Spuren hinterlassen, in seinem Gesicht, an seinem Körper, in seinen Bewegungen, doch zum Glück nicht in seinem Gehirn. „Diese Droge ist so schädlich, sie immunisiert gegen alles, Hunger, Durst, Kälte, sie lässt dich nicht denken, sie lässt dich kein Individuum mehr sein.“ Jonni hat im Knast kalt entzogen. „Ich musste so tief runter, dann hatte ich erst begriffen, was die Droge mit mir macht.“

PBC gilt in Argentinien als neue Droge der Armen. Es ist ein Abfallprodukt der Kokainherstellung und wird geraucht, vorwiegend von Jugendlichen. Es wirkt nur kurz, dafür aber heftig. „Der Flash dauert nur knapp eine Minute und nach einer Viertelstunde verlangt dein Körper schon den nächsten Kick.“

Jonni kennt das Verlangen. Viele Abhängige rauchen 20 bis 30 Pacopfeifchen am Tag, das Stück zu 25 Cent. „Da brauchst du mindestens sechs, sieben Euro am Tag, dass macht rund 35 Euro die Woche.“ Ein Vermögen in einen Armenviertel um die Hauptstadt Buenos Aires. Die Sozialhilfe beläuft sich in Argentinien auf knapp 40 Euro im Monat.

Jonni weiß aus eigener Erfahrung, was das heißt: „Die Kids machen alles zu Geld, was sie haben, alles. Zu Hause fehlen plötzlich die einfachsten Sachen.“ Und wenn das nicht reicht, bleibt betteln, stehlen oder sich prostituieren. Der Medizinpsychologe Hugo Míguez meint, der Konsum von PBC gerate schneller außer Kontrolle als bei anderen unerlaubten Substanzen. „Der Konsum steigt rasch an und der Konsument verliert schnell seine familiären und sozialen Bindungen.“

Hugo Míguez beschäftigt sich wissenschaftlich mit den Auswirkungen von PBC. Hauptkonsumenten sind seinen Beobachtungen nach die 14- bis 30-jährigen männlichen Jugendlichen in den Armenvierteln der argentinischen Hauptstadt. Nur wie viele genau an Paco hängen, weiß auch er nicht zu sagen.

Offizielle Zahlen gibt es keine, nur inoffizielle Schätzungen. Und die schwanken zwischen 30.000 und 70.000 Konsumenten. Der Grund: Die Jugendlichen, die an PBC sterben, werden nicht erfasst. Denn die meisten verhungern, weil ihnen die Droge das Hungergefühl raubt. Sie werden nicht als Drogentote gezählt.

Seit 2002 ist PCB in Argentinien auf dem Vormarsch. Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise wurde der Peso gegenüber dem Dollar von dem einen auf den anderen Tag abgewertet und Kokain oder Marihuana wurden – wie andere Produkte auch – unerschwinglich teuer.

Und auf einmal hatte etwas Wert, was vorher einfach weggeworfen wurde. PCB ist ein Überbleibsel der Kokainproduktion, ein Abfallprodukt des Destillierungsprozesses. Um die Kokainlabors in den Armenvierteln im Großraum von Buenos Aires begann der Handel mit der Abfalldroge zu florieren. Inzwischen finde die Droge, so der Paco-Experte Míguez, bereits Abnehmer im Zentrum.

Dass PCB auch von der Mittel- und Oberschicht konsumiert wird, beobachtet auch Rita: „Wir sehen sie jeden Tag, wenn sie aus reichen Vierteln wie Palermo und Belgrano kommen und einkaufen.“

Die 40-jährige Mutter lebt im Armenviertel Villa 1-11-14 in Bajo Flores. Einer ihrer Söhne raucht PCB. Vor fünf Jahren tauchte Paco in ihrem Viertel auf. „Die Kids, die Paco konsumieren, laufen durch das Viertel wie Zombies, wie lebende Toten.“

Viele Mütter wissen nichts über diese Droge, erzählt Rita. Sie hat sich mit anderen betroffenen Müttern zusammengetan. „Die Produzenten und Verkäufer leben im Viertel. Alle kennen sie, auch die Polizei. Du siehst die Kids Paco kaufen, aber keiner tut etwas.“

„Paco tötet dich“, lautet ein Graffito im Viertel. Und in den Villas, in denen der Fußballclub oftmals die einzige soziale Anlaufstelle ist, bringt die Hilflosigkeit viele Mütter dazu, die Polizei zu bitten, ihre abhängigen Kinder einzusperren. „Unsere Kinder sind keine Diebe und Straftäter, unsere Kinder sind erster Linie Süchtige“, sagt Rita.

Aufsehen erregte vor einem Jahr die Aktion verzweifelter Mütter PCB-abhängiger Jugendlicher aus dem Armenviertel Ciudad Oculta. Da sie nicht mehr weiter wussten, an wen sie sich noch wenden sollten, blockierten sie eine der wichtigsten Einfallstraßen der Hauptstadt. Diese „Piquete“ – sonst die traditionelle Protestform der Arbeitslosen – rief die Medien auf den Plan und sorgte zum ersten Mal dafür, dass eine breitere Öffentlichkeit das Thema wahrnahm.

Auch zu so genannten „Escraches“ haben sich die Mütter im Barrio Mataderos schon zusammengetan. Wie die Menschenrechtsgruppen zu Zeiten der argentinischen Militärdiktatur zogen sie lärmend vor die Häuser der Dealer und machten auf sie aufmerksam.

Es mangelt nicht nur an Anlaufstellen für die Betroffenen und deren Angehörigen. Oft fehlt es den Bewohnern an einfachster Information über die Auswirkungen von PCB.

Die Politik hat bisher nur halbherzig auf das Problem reagiert. Auf Druck der Basisgruppen hat sie im Menschenrechts- und Sozialministerium der Stadt Buenos Aires eine „Koordinationsstelle für soziale Stadtpolitik“ eingegliedert, finanziellen Spielraum hat sie jedoch keinen. „Der Staat hat sich hier seiner Verantwortung noch immer nicht gestellt“, kritisiert denn auch Alejandro Lucero, ein Mitarbeiter der Koordinationsstelle. Warum das so ist, beschreibt er am Beispiel der Polizei. Die sei vielerorts am Drogengeschäft beteiligt. Deshalb sei es ein Irrglauben, die Bürger könnten bei der Polizei ihre Anzeigen machen. „Die Polizei nimmt die Anzeige entgegen und heftet sie ab.“

Nächstes Jahr wird in der Hauptstadt jedoch ein neuer Bürgermeister gewählt. Jorge Telermann, der Amtsinhaber, möchte wiedergewählt werden. Und seine Berater haben das Thema für ihren Chef entdeckt. In den nächsten Wochen sei mit einem „integrierten Plan gegen den Konsum von Paco“ zu rechnen, hört man daher aus dem Rathaus.

Unter dem Stichwort „Beschaffungskriminalität“ hängt es unmittelbar mit den Thema „Innere Sicherheit“ zusammen. Unbestritten ist der Zusammenhang zwischen der steigenden Kinderprostitution um den Hauptstadtbahnhof Constitución und dem zunehmenden Konsum von PBC.

Jonni ist seit einem Jahr aus dem Knast heraus. Er ist wieder nach La Boca gezogen und musste feststellen, dass direkt neben seiner Wohnung PBC verkauft wird. Heute macht er Aufklärungsarbeit im „Comedor Los Pibes“. Der Comedor ist eine von zahllosen Armenküchen, die im Zuge der Wirtschaftskrise entstanden und in vielen Vierteln zu sozialen Anlaufstationen geworden sind. Hier werden nicht nur kostenlos Mahlzeiten ausgegeben, es gibt eine Tischlerei und ein Reparaturwerkstatt. „Wenn wir keine Alternativen anbieten, kommen wir gegen PBC nicht an“, ist sich Jonni sicher.

Er kommt an die Kids ran. Er ist kein Theoretiker im weißen Kittel, sondern einer von ihnen: „Ich habe mit vielen gesprochen und ich weiß, dass viele aufhören möchten, aber sie können es nicht. Die Gesellschaft diskriminiert sie, anstatt ihnen Möglichkeiten und Hilfe anzubieten.“