Schultern hängen, Augen lauern

Letztes Jahr hat Sandra Hüller den Silbernen Bären für ihre Leistung in „Requiem“ bekommen. In diesem Jahr ist die 28-jährige Schauspielerin wieder dabei – als überforderte Hauptfigur in dem Familiendrama „Madonnen“ (Forum)

VON HANNAH PILARCZYK

„Aber nicht die Turnschuhe!“, ruft Sandra Hüllers PR-Mensch unserem Fotografen noch hinterher, als der sich mit der Schauspielerin zum Fotoschießen aufmacht. Tatsächlich passen die schwarzen Adidas Superstar nicht zu Sandra Hüllers restlicher Kleidung: dieser glänzenden grünen Bluse, dem überlangen schwarzen Jackett und der Röhrenhose, die zusammen eine Art Glamrocksmoking ergeben, den auch Adam Green tragen könnte.

Hat man Hüllers Worte nach der letzten Berlinale im Kopf, passt die Kombination aber doch. Man habe als Schauspielerin momentan nur zwei Möglichkeiten, hatte sie in der Zeit geschrieben: „Entweder man zieht sich total zurück. Oder man ist immer freundlich, sieht gut aus, ist toll geschminkt. Ob es einen dritten Weg gibt?“ Sie hat es ausprobiert. Hat sich ein halbes Jahr zurückgezogen, nicht gearbeitet, auch nicht am Theater, wo sie eigentlich herkommt. Jetzt ist sie mit ihrem neuen Film „Madonnen“ wieder da. Sieht gut aus, ist nur ein wenig geschminkt und eher höflich als freundlich. Zusammen mit Jackettmantel und Turnschuhen der dritte Weg?

Sie selbst will dazu nichts mehr sagen. Zu oft ist sie darauf angesprochen worden, will sich nicht noch einmal erklären. „Ja, diesen Anspruch habe ich noch“, sagt sie nur knapp. Überhaupt nimmt sie, wenn man sie auf alte Zitate anspricht, vieles zurück. Nicht im Sinne von revidieren, sondern von aus der Öffentlichkeit sich wieder zurückholen, nicht den Medien überlassen. Vielleicht hat sie gelernt aus ihren knappen Sätzen, in die man als Journalistin gern mehr reinzulegen versucht ist, als sie letztlich hergeben. Wahrscheinlich liegt es aber eher daran, dass sich Sandra Hüller einfach weiterentwickelt hat. „Bei der letzten Berlinale wollte ich schon ganz woanders sein, einen anderen Überblick haben“, sagt sie über die Zeit, als sie mit ihrem Kinodebüt in dem Exorzismusdrama „Requiem“ zum Star wurde und den Silbernen Bären als beste Darstellerin gewann. Von diesem Dogmatismus habe sie sich wieder frei gemacht, gibt die 28-Jährige zu verstehen – und lacht. Wofür man ihr, wie auch ihren Filmfiguren, sehr dankbar ist, weil ihr Lachen jeweils sehr knapp bemessen ist.

Dreimal lacht Rita, Sandra Hüllers Figur in „Madonnen“. Das erste Mal, als sie ihren leiblichen Vater, den sie noch nie gesehen hat, besucht und mit seiner zweiten Familie zusammen am Abendbrottisch sitzt. Sie kennt die Normalität eines gemeinsam eingenommenen Familienessens nicht, ist überfordert und fängt an, in die peinliche Stille hineinzulachen. Das zweite Mal liegt Rita auf dem blauen Schlafsofa, das ihr Freund Marc ihr gekauft hat. Sie will das Geschenk nicht, sagt, dass die Matratze zu hart sei. Marc, ein fülliger US-Soldat, legt sich neben sie. Dann fängt er langsam an, sich auf sie draufzurollen, bis sein schwerer Körper sie fast begräbt. Nach Luft japsend, fängt Rita an zu lachen. Das Sofa bleibt. Das dritte Mal tritt Fanny, Ritas älteste Tochter, ihr entgegen. „Kann ich bei dir bleiben?“, fragt die Zehnjährige. Sie und ihre vier Geschwister sind gerade wieder zur Großmutter geschickt worden. Verblüfft lacht Rita auf. Dann sagt sie nein.

„Jeder scheint zu wissen, was eine Mutter darf und was nicht. Und die Verletzung dieser Rollenerwartung wird mit massiven moralischen Sanktionen belegt“, beschreibt Regisseurin und Autorin Maria Speth den Ausgangspunkt ihrer Arbeit. „Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist aber voll von Müttern, die ihre Rolle nicht so erfüllen wie von ihnen erwartet.“ So eine Mutter habe sie zeigen wollen.

Wegen Diebstahls muss Rita eine längere Haftstrafe absitzen, während der die Großmutter, Ritas Mutter Isabella (Susanne Lothar), die Kinder nimmt. Zurück in der Freiheit, holt sich Rita ihre Kinder erst zurück. Gemeinsam mit ihrem Freund Marc baut sie mühsam eine Art Familienleben auf. Doch auch wenn die Matratzenlager der Kinder langsam durch Hochbetten ersetzt werden und statt der nackten Kabel irgendwann Lampen an den Wänden hängen, spürt man: Rita wird wieder weggehen. Weil das ihre eigene Normalität ist.

Auf den ersten Blick ist Rita der Gegenentwurf zur Figur der Michaela, die Sandra Hüller in „Requiem“ gespielt hat. Wo Michaela durch den Erwartungsdruck der Eltern und die Moralvorstellungen der Kirche irgendwann sich selbst verliert, lässt Rita die Konventionen hinter sich und ist Mutter ohne Kinder. „Eine Heldin“, hat Sandra Hüller Rita in einem Interview genannt. Das will sie nun nicht so stehen lassen. „Rita ist ja nicht emanzipiert. Sie hat sich nicht mit sich selbst auseinandergesetzt, sondern ist vor allem egoistisch.“ Als Gegenstück zu Michaela sieht sie Rita aber auch nicht: „Auf ihre Weise gehen beide radikal ihren eigenen Weg.“

Hüller spielt ihre Figuren analytisch, scheint in ihnen gesellschaftliche Zwänge zu verdichten, Handlungsoptionen abzuschätzen – eine Qualität, die irritiert, weil gerade von jungen Schauspielerinnen erwartet wird, dass sie sich ihre Rollen mit Empathie statt mit rationaler Durchdringung erschließen. Die intellektuelle Durcharbeitung, die Hüller mit ihren Figuren betreibt, ist auch in „Madonnen“ präsent: Als ob schon von vornherein klar genug wäre, was die Handlungsmuster ihrer Figur sind, spielt Sandra Hüller ihre Rita sehr ähnlich wie Michaela und gibt ihr keine neue, eigene Körpersprache. Die hängenden Schultern und lauernden Augen, man kennt sie. Im Vergleich merkt man, wie großartig Hüller und Regisseur Hans Christian Schmid die Michaela als dynamischere Figur angelegt hatten. Obwohl man wusste, dass sie am Ende an den Torturen des Exorzismus sterben würde, glaubte man ihr in so vielen Momenten, dass sie ihr Glück noch zu greifen bekäme. Rita dagegen entwickelt sich nicht. Ihre Motive bleiben unklar, ihre Sätze knapp. „Ich brauch’ Geld.“ „Ich muss weg.“ Leider ist die Erzählweise von „Madonnen“ nicht annähernd so ökonomisch. Immer wieder erzählt er von der Dysfunktionalität von Familienkonstellationen und findet doch keine andere Metapher dafür als den Esstisch, auf dem Pizza aus dem Karton steht. Eine halbe Stunde hätte man problemlos kürzen können, denn Hüllers rationale Darstellung überträgt sich auch auf den Zuschauer: Man begreift und analysiert. Nur nachempfinden, das tut man nicht.

„Madonnen“. Regie: Maria Speth. Mit Sandra Hüller, Olivier Gourmet, Susanne Lothar. Deutschland 2007, 120 Min.; heute, 10 Uhr, Cinestar; 13. 2., 20 Uhr, Colosseum; 18. 2., 12.30 Uhr, Arsenal