Sagt, wer geschossen hat!

In der Diskussion um die Entlassung von RAF-Terroristen geht es nicht um Gnade, Entschuldigungen oder Reue, sondern einfach nur um Ehrlichkeit – damit die Fantasien über die Täter ein Ende haben

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Politische Debatten, in denen es um exzessive Gewalt geht, verkommen, gerade wenn die Täter noch oder wieder „unter uns“ sind, leicht zum Austausch von Parolen.

Deutschland hat darin seit 1945 reichlich Erfahrungen gesammelt. Das legendäre Achtundsechzig bezog seine politische Energie nicht zuletzt aus der Gewaltvergangenheit der Elterngeneration. Die Forderung, das Schweigen über die eigene Beteiligung zu brechen, die unbehelligt im Land lebenden Täter zu nennen und zu bestrafen, stand am Beginn der Protestbewegung – und war ein tragendes Motiv für die Gründer der RAF; man lese nur einmal Ulrike Meinhofs Essays aus den 60er-Jahren. Das Skandalon dieser Zeit war die Schlussstrichmentalität der schweigenden Mehrheit gegenüber der NS-Vergangenheit.

In der aktuellen Debatte um die RAF tauchen viele der damaligen Wendungen wieder auf: „Ich bin fassungslos über diese ‚Deckel drauf‘-Mentalität, von der ich immer nur in anderen Zusammenhängen gehört habe, die ich aber jetzt persönlich erfahre. Und diese Mentalität haben die Terroristen ja ihren Vätern immer vorgeworfen, wie auch das Schweigen, das sie nun selbst seit drei Jahrzehnten praktizieren. Damit stehen sie in der Tradition ihrer verachteten Väter-Generation. Für dieses Schweigen müssen sie die Verantwortung übernehmen. Auch Schweigen ist eine Tat, eine Handlung, ein Angriff. Sie schweigen, um ihren ‚Mythos‘ zu erhalten.“ So Corinna Ponto, die Tochter des von der RAF ermordeten Bankiers Jürgen Ponto. Sie hat Recht. Auch in ihrer Forderung nach Aufklärung. Die Frage in der Debatte ist, wie diese Aufklärung aussehen kann – und wem sie nützt.

Im Zentrum der Diskussion steht der Appell, die sollten endlich die persönliche Verantwortung für die Morde übernehmen und die Tat nicht im Dunkel einer zur Solidarität verklärten Schweigepolitik verstecken. Auf der Seite der Hinterbliebenen gibt es einen psychologisch zwingenden Wunsch nach Gewissheit und Konkretion. Noch nach Jahrzehnten ist es etwa für Kriegerwitwen und -kinder wichtig, wenigstens den genauen Ort zu erfahren, an dem der Mann oder Vater gefallen ist, wo er begraben wurde. Zu den qualvollsten Folgen, an denen viele Angehörige von Mordopfern leiden, deren Fall nicht aufgeklärt wurde, zählen zwangsartige, nicht enden wollende Fantasien über die Täter. Auch wenn im Fall der RAF der Personenkreis und die Tatmotive bekannt sind, bleibt bei den Angehörigen der Wunsch, die Ungewissheit aufzulösen, den Schuldigen auszumachen, auf den sich die durch seine Tat freigesetzten Emotionen richten können. Dass die RAF-Täter ihre Strafe erhalten haben, beseitigt nicht diese psychische Not der Angehörigen. Zur Verarbeitung der Tat gehört die Konkretion des Täters. Das gilt, spiegelbildlich, auch für die Täter selber. Solange sie sich dahinter verschanzen, die Mordtat sei konsensuell geschehen, insofern auch gleichgültig, wer sie ausgeführt habe, verbleiben sie in der falschen Welt des Gruppenzwangs im Namen moralischer Überlegenheit. Sie degradieren sich damit zugleich zu Exekutoren, ausführenden Organen. Nur wer „Ich“ sagt, ist in der Lage, Schuld anzuerkennen.

Es ist die unhintergehbare Voraussetzung dafür, sie zu bearbeiten. So eindeutig mir diese psychologischen Aspekte des Problems erscheinen, so zwiespältig empfinde ich die von den Chefmoralisten der Boulevardpresse erhobene Forderung, das Täter-Outing habe öffentlich und reuevoll zu geschehen. Hat „die Öffentlichkeit“ wirklich ein Recht darauf? Welches? Was ist damit gewonnen, wenn „wir“ wissen, wer es war? Im derzeitigen Klima gewiss zweierlei: deftige Schlagzeilen und eklatant verschlechterte Bedingungen für die Täter, sich neu im Leben zu orientieren.

Corinna Ponto sagt in bewunderungswürdiger Klarheit: „Ich bitte um die Gnade, keine Entschuldigungs-Formel lesen oder hören zu müssen. Um Entschuldigung bitten müssen die Täter ihre Angehörigen. Auch das Thema Reue müssen sie vor allem mit sich selbst ausmachen. Für meine Familie gilt überhaupt nur die Erwartung, Aufklärung zu bekommen.“ Ja, das sollte sie. Sie hat ein Recht darauf.

Diejenigen, die den Finger am Abzug gekrümmt haben, sollten sich den Angehörigen der Opfer zu erkennen geben. Es wäre das Minimum an Verantwortung und – ja: Ehrlichkeit.

Den Prinzipialisten unter uns, die immer „die ganze Wahrheit“ haben wollen, wird der Vorschlag nicht gefallen. Aber zu den Geheimnissen der Wahrheit zählt, dass man sich ihr manchmal nur schrittweise nähern kann. Dies wäre ein erster.