Kolumne: HELMUT HÖGE über neudeutsche Untote

"Es gehört zur Axiomatik der Zombologie, dass sie mit der Gleichung 'Wahrnehmung = Film' operiert" (K. Leiner)

Am Wochenende wurden erneut mehrere Ausländer auf zwei Dorffesten von vermeintlichen Neonazis körperlich angegriffen. Gleichzeitig trat der mit pornografischen Songs über Gewalttätigkeiten in den Berliner Einwanderervierteln reich und berühmt gewordene Tempelhofer Gangsta-Rapper Bushido auf einem Bravo-Konzert gegen Gewalt an Schulen vor dem Brandenburger Tor auf.

Alle drei Events wurden von Bild bis taz aufs Schärfste verurteilt. Der untote Merve-Philosoph Kurt Leiner, auch "Fascho-Kurt" genannt, gab bereits im Vorfeld zu bedenken: "Die Medien brauchen den, der die Gewalt im Realen vollzieht; der Gewalttäter braucht das Medium als seinen Spiegel." Die "Gewalt" (u. a. gegen Schwule), die von den Berliner Gangsta-Rappern besungen wird, findet jedoch auch ohne den Umweg über das "Reale" in die Medien, weil die Realness ("Authentizität") der Sänger darauf beruht, dass sie aus dem Ghetto stammen und die "Spannungen" dort "kein Produkt des Hiphop sind, sondern umgekehrt, der Hiphop das Produkt der Verhältnisse", wie der Rapper Sido der Presse erklärt.

"Durch den totalen Ausschluss der Gewalt tritt die irreguläre Gewalt vor allem bei denen auf, die als soziale Gruppe vom Aus- oder Einschluss betroffen sind", schreibt Kurt Leiner, und weiter: Wenn der für den Krieg plädierende Faschismus "die politische Theorie der Gewalt ist (die das 20. Jahrhundert mehr dominiert hat als die letzte bürgerliche Theorie dieser Art, die Klassenkampf-Doktrin des Marxismus)", dann ist dieser neotürkisch-arabische Kiez-Hiphop die Fanfare eines Bürgerkriegs im Medialen. Die Medien sind laut Leiner "völlig auf Gewalt fixiert, damit sie sonst nirgendwo mehr stattfinden kann". Man könne demnach den "Frieden" auch als "das Reich der Diskurse" betrachten - und den "Krieg" als "das Reich der Körper". Deswegen begrüßt zum Beispiel der Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft MigrantInnen und Flüchtlinge der Grünen, Omid Nouripour, den Auftritt von Bushido vor dem Brandenburger Tor ausdrücklich: weil man ihn mit solchen Medien-Ereignissen von seinem "Anspruch auf Realness entfremdet".

Auch "der Nazi" hadert dergestalt mit der "Authentizität", denn er "imitiert gewissermaßen die Gewaltproduktion der Medien, indem er sie auf das Reale projiziert". Für den Berliner Philosophen und Ex-und-Pop-Wirt ist der Krieg nichts weiter als eine Eskalation des Realen, die jede symbolische Ordnung an ihre Belastungsgrenze bringt (heute, da "allein die Androhung von Gewalt bereits strafbar ist"): Jeder Akt der Gewalttätigkeit setzt eine Differenz frei - und "wenn die Gewalt different wird, erzeugt sie den Konflikt als Zeichen".

Leiner bezeichnet den "gesamten Komplex des Sozialen" als ein "Walten", dessen "Ursprung und Movens" die "Gewalt, die gewalttätige Eröffnung der Differenz" ist, deren "sprachliche und intellektuelle Organisation man Verwaltung'" nennt, denn "Walten" leitet sich laut Leiner von der indogermanischen Wurzel "ual-dh-beherrschen" ab: "Walten ist die präsymbolische Form dessen, was in der symbolischen Ordnung zu Macht wird. Und das Soziale ist 'Bewältigung' (Steuerung) des 'Waltens' (Schicksal)."

Demgemäß bezeichnet das Hamburger Montagsmedium Der Spiegel die Songs des Rappers Sido aus dem Märkischen Viertel denn auch als "Bulletins" und realistischen "Blick auf eine brutale Wirklichkeit". Während dieser in Wahrheit bloß einige B.Z.-Schlagzeilen über das vermeintliche "Problemviertel" nebeneinander montiert hatte: "Der Hausmeister im 1. Stock ist ein Ex-Sträfling, der sich sein Geld mit Pornofotos aufbessert. Im Stockwerk 12 wird mit Falschgeld hantiert. Auf der 4. Etage lebt ein Drogenwrack. Und ganz oben riecht es streng - denn da hängt ein Toter."

Was wir vom Ereignis im Realen wissen, ist für Leiner bloß das, als was uns das Ereignis "im Imaginären erscheint", und dieses wird wiederum von den Medien gespeist. "Gewalt ist Leben," darauf läuft Kurt Leiners "Zombologie", die ihm die Anthropologie ersetzen soll, hinaus. (Sie erschien gerade als 292. Merve-Band.) Dem gemäß wären die oben erwähnten "Events" kein Leben (mehr), sondern - situationistisch gesprochen - "Spektakel" oder postproletarische "Nekromantik".

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geb. 1947, arbeitet für die taz seit 1980, Regionalrecherchen, ostdeutsche Wirtschaft, seit 1988 kulturkritischer Kolumnist auf den Berliner Lokalseiten, ab 2002 Naturkritik.

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