Die Vollzeitmutter

Silke Wilken hat eine besondere Familie: Sie kümmert sich um vier schwer behinderte Pflegekinder. Sie sind ihr Lebensinhalt geworden. Doch die Existenz der 42-Jährigen ist bedroht: Die Bundesregierung will große Pflegefamilien stärker besteuern

Die „Inpflegegabe“ ist durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz geregelt. Anders als bei der Adoption bleibt das Sorgerecht und damit die Entscheidungsgewalt über alle wichtigen Erziehungsfragen bei den leiblichen Eltern oder einem Amtsvormund. Die Höhe der Vergütung ist Ländersache. Pflegestellen werden von Jugendämtern vermittelt. Bewerber werden über ihren Lebenslauf befragt, ihre Wohnverhältnisse überprüft, Führungszeugnisse und ärztliche Gutachten sind nötig. Seit 2004 darf jede Familie nach Senatsbeschluss nur noch ein behindertes Kind aufnehmen, bei gesunden gibt es laut AktivVerbund Berlin keine Begrenzung.

VON CHRISTINE SCHMITT

Wenn alle vier im Schulbus sitzen und der dann abfährt – dann kann Silke Wilken erst einmal tief durchatmen, zurück in ihr Haus gehen, in Ruhe einen Kaffee trinken und die Zeitung lesen. Jeder Morgen ist bei Silke Wilken anstrengend. Denn sie hat ein besonderes Kinderprogramm vor sich.

Die 42-Jährige weckt als erstes Anja*, die mit dem Down-Syndrom lebt. Sie legt der 17-Jährigen die Kleider heraus und erklärt ihr dann genau, was sie als Nächstes zu tun hat. Anschließend geht Wilken in die Kinderzimmer von Lisa, Darina und Marcel. Lisa und Marcel werden mit einer Sonde ernährt, die durch den Bauch in den Magen führt, Darina mag ihren Kakao nur aus einem Schnabelbecher trinken. Alle drei sind körperlich und geistig schwerstbehindert; sie müssen gewaschen, gewickelt und angezogen werden. Marcel ist außerdem blind.

Die leiblichen Eltern der Kinder wollten nicht mit ihnen leben, Silke Wilken wollte und kann mit ihnen leben. Sehr gut sogar. Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter und allein erziehende Pflegemutter von vier behinderten Kindern im Alter von 8 bis 17 Jahren. „Ich war schon immer anders als die anderen“, sagt sie über sich.

Silke Wilken redet schnell, so, als ob sie keine Zeit hat. Sie müsse ja verrückt sein, sich so eine Arbeit und so ein anstrengendes Leben aufzuhalsen, höre sie häufiger. Aber noch öfter bekommt sie Anerkennung: „Toll, Sie können stolz auf sich sein“, heißt einer dieser Sätze. „Das mag ich überhaupt nicht hören“, sagt sie. Denn für sie ist es einfach ihr Leben – außergewöhnlich und doch normal.

Nur Hausfrau und Mutter, das wollte Silke Wilken nie sein. Schon bald nach der Geburt ihrer Tochter Denise vor 20 Jahren fühlte sie sich unausgeglichen. „Ich wollte unbedingt mehr tun“, sagt die ausgebildete Erzieherin und Sozialarbeiterin. In ihrem Beruf fand sie an ihrem damaligen Wohnort Hannover keine passende Stelle. So dachten sie und ihr Mann über Alternativen nach. Als Erzieherin liebäugelte sie damit, Pflegekinder aufzunehmen. „Allerdings hatten wir nicht an behinderte Menschen gedacht“, sagt sie. Mit denen hatte sie bis dahin „nichts am Hut“.

Dann meldete sich das Jugendamt bei ihnen. Ob sie einen misshandelten Säugling aufnehmen könnten? „Sehr unbedacht sagten wir ja zu Christian“, sagt Silke Wilken heute.

Ein Platz in der Familie

Als Denise und Christian damals fast gleichzeitig in einen Kindergarten kamen, fragte sich Silke Wilken wieder, was sie machen könnte. Berufstätigkeit war immer noch unmöglich, also überlegten sie und ihr Mann wieder, ob nicht noch ein Kind in ihrer Familie Platz haben könnte. Sie fanden Anja, die in Dresden nach der Geburt zur Adoption freigegeben wurde und die wegen des Down-Syndroms niemand haben wollte. Heute kann Anja laufen und sprechen, wenn auch ein bisschen undeutlich. „Aber sie ist nicht in der Lage, allein zum Bäcker zu gehen.“

Als auch Anja „aus dem Gröbsten“ raus war, machte sie sich wieder auf die Suche. Damals wurde ihr klar, dass die Kinder ihr Lebensinhalt sind. Das Jugendamt fragte an, ob sie sich Anna annehmen könnte, ein Mädchen, dem nur wenige Wochen Lebenszeit vorausgesagt wurden und das in einer Abstellkammer in einem Krankenhaus untergebracht war. Die Mutter hatte während der Schwangerschaft viel Alkohol getrunken. Anna sollte noch ein paar Wochen in einer Familie leben. „Sie hat nie gelacht, nur dagelegen und war mit dem Atmen beschäftigt“, sagt Wilken. Trotzdem ist sie drei Jahre alt geworden.

Nach Annas Tod fiel Silke Wilken in ein tiefes Loch. „Ich weiß nicht, wie ich alles geschafft habe – ich weiß nur, dass ich aufgrund dieser Erfahrungen heute alles viel gelassener sehe.“ Mit ihren Kindern lebte sie damals etwas einsam in einem Dorf und stellte fest, dass sie und ihr Mann sich auseinanderentwickelt hatten. Spontan entschied sie, mit ihren Kindern und ohne Ehemann, nach Berlin zu gehen.

„Ich hätte in Hannover mit den Kindern finanziell auch nicht überleben können“, sagt sie. Denn für eine Arbeit hätte sie weder Zeit noch Kapazitäten gehabt, und das Geld, das sie als Pflegemutter bekam, habe hinten und vorne nicht gereicht. Da es in Berlin für Pflegeeltern neben den Lebensunterhaltskosten auch Erziehungsgeld gab, zog es sie dort hin. Mit ihrer leiblichen Tochter und den damals drei Pflegekindern fand sie ein großes Haus in Marienfelde. „Die Kinder brauchen ja den Platz.“

Doch nun muss sich Wilken wieder finanzielle Sorgen machen. Ab 2008 soll das Erziehungsgeld, das sie für die Kinder bekommt, einkommensteuerpflichtig werden. Betroffen sind Pflegehaushalte, in denen die Erziehungsgeldbeiträge im Jahr 24.000 Euro übersteigen. Dies sieht ein Gesetzentwurf des Bundesfinanzministeriums vor.

Silke Wilken erhält für vier Kinder neben den Lebensunterhaltskosten auch Erziehungsgeld. Da auch noch die vom Senat bezahlte Altersvorsorge mit zum Einkommen gerechnet würde und sie somit für jedes Kind auf etwa 1.000 Euro komme, müsste sie Steuern zahlen. „Wenn ich die Hälfte des Erziehungsgeldes als Steuern zahlen müsste, wäre ich ruiniert – und auch keine Pflegemutter mehr. Sondern eine Erwerbstätige, die Kinder betreut“, empört sich auch Silke Wilken.

Schon wer zwei Kinder mit „erweitertem Förderbedarf“ betreut, wird zur Kasse gebeten, kritisiert Renate Scheuch vom „AktivVerbund Berlin Pflegeeltern für Pflegekinder“. Darin haben sich Betroffene organisiert, als der Senat vor drei Jahren beschloss, dass nur noch ein behindertes Pflegekind pro Familie möglich ist. Für viele Familien sei schon dies eine Katastrophe gewesen, so Scheuch, weil sie ihr Leben darauf abgestimmt haben, immer wieder Kinder aufzunehmen, wenn eines großgeworden ist und auszieht.

Mittlerweile hat der Verbund mehrere Politiker mobilisiert, um gemeinsam gegen das geplante Bundesgesetz zu protestieren. Denn Silke Wilken sei kein Einzelfall, sagt Renate Scheuch. Es gebe viele Familien, in denen mehrere behinderte Kinder aufgenommen werden, speziell bei Menschen, die Erzieher oder Sozialarbeiter sind.

„Das ohnehin knappe Angebot für die Versorgung behinderter Kinder in der Vollzeitpflege wird sich weiter verschlechtern“, fürchtet die jugend- und familienpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, Emine Demirbüken-Wegner. Durch die einkommensteuerrechtliche Behandlung werde ein Schaden entstehen – für die Familien und die betreuungsbedürftigen Kinder und auch für den Bezirk. Denn eine Heimunterbringung sei um ein Vielfaches teurer. Ende 2005 lebten etwa 1.800 behinderte Kinder bis zu 14 Jahren in Heimen und genauso viele bei Pflegefamilien, so Kenneth Frisse, Sprecher der zuständigen Senatsverwaltung für Bildung.

Leidenschaft des Lebens

Silke Wilken hat noch eine weitere Leidenschaft. Wenn der Bus mit den Kindern Richtung Schule unterwegs ist, setzt sie sich an den Tisch und schreibt – am liebsten entwirft sie Drehbücher. Mit dem Drehbuch ihres Lebens ist sie bisher ganz zufrieden. „Ich bereue keine einzige Minute.“

Das Einzige, was ihr spontan einfällt, womit sie sich nicht so ganz anfreunden kann, sind die nicht vorhandenen Gespräche. „Manchmal würde ich mir wünschen, dass wir uns mit Worten unterhalten könnten.“ Denn drei ihrer Pflegekinder können sich nur über Laute und Mimik mitteilen. * alle Kindernamen geändert