Die Mauer ist stärker als ich. Du auch!

Ramona Montags Tagebuch 1984–1990: Ihre Jugend in Sachsen und ihre Liebe zu einem Klassenfeind aus Franken. Auszüge aus Barbara Bollwahns neuem Jugendroman

29. Juli 1985

DAS IST ALLES KAUM AUSZUHALTEN!!! Ich bin so glücklich wie noch nie in meinem Leben, und trotzdem könnte ich Rotz und Wasser heulen. Heute zum Frühstück hat mir Jürgen seinen grünen Pass gezeigt. Da steht drin: „Für alle Länder“. Da ist mir der Atem gestockt. Ein Pass, mit dem man in ALLE Länder der Erde reisen kann. Das muss man sich mal vorstellen!

Als ich meinen Personalausweis aus dem Brustbeutel rausgeholt habe, haben die Jungs ganz neugierig geguckt. Sie haben noch nie einen DDR-Ausweis gesehen.

Jürgen hat ganz viele Stempel in seinem Pass. Er war schon in Frankreich, Spanien, England und sogar den USA. Ich kenne nur Ungarn und die Sowjetunion. Die Franken waren dafür noch nie in der Sowjetunion. Aber das ist natürlich überhaupt nicht das Gleiche wie die Reisen von Jürgen. Ich bin auch noch nie geflogen. Jürgen hat als Schüler an so einem Austauschprogramm teilgenommen und war ein Jahr in den USA. Wahnsinn!

Nach dem Frühstück war ich total deprimiert. Immer wieder habe ich seinen Pass durchgeblättert und mich gefragt, warum ich nicht auch so einen habe. Und dann ist mir auch schnell klar geworden, dass wir nie eine Reise zusammen machen können. Außer in Länder wie Ungarn natürlich.

Jürgen hat das gemerkt und einen Satz gesagt, bei dem ich fast vom Campingstuhl gefallen bin: „Ich kann dich ja besuchen.“ Als ich ihn überrascht angeguckt habe, meinte er: „Ja, warum nicht? Ich war noch nie in der Zone, ähm, der DDR, und außerdem will ich dich unbedingt wiedersehen.“

11. August 1985

Mutti und Papi fragen die ganze Zeit, was mit mir los ist. Ständig wollen sie wissen, ob etwas passiert ist. Natürlich ist was passiert, aber nicht so was, wie sie denken. Ich habe noch nichts von Jürgen erzählt. Als ich zu Hause ankam, war schon eine Postkarte von ihm da!! Die hat er abgeschickt, als wir noch am Balaton waren. Denn er schreibt, dass ich noch da bin, er mich aber jetzt schon vermisst, wenn er an die Abreise denkt. „Es ist, als ob jemand den Stöpsel aus dem Balaton gezogen hat.“ Was für ein toller Satz! Keine Ahnung, ob Mutti und Papi die Karte gelesen haben. Bei Papi würde ich die Hand nicht ins Feuer legen. Dann hab ich mich gefragt, ob er an dem Text erkennen könnte, dass Jürgen aus dem Westen ist. Aber da ist nichts. Ich habe die Karte so oft gelesen, dass ich die Zeilen auswendig kann.

Nur ganz am Ende steht etwas, was ich erst nicht verstanden habe. Er hat mit Jürgen unterschrieben und dahinter steht in Klammern „KF“. Marie und ich hatten ihm ja von den vielen Abkürzungen bei uns erzählt. Aber KF, hä? Ich weiß nicht, beim wievielten Lesen mir plötzlich klar wurde, wofür KF steht. Für Klassenfeind natürlich!! Ich musste so lachen. Ich hatte ihm ja von meinen Eltern erzählt bzw. von Papi, also hat er sich die Abkürzung überlegt. Als Papi mir die Karte gegeben hat, hat er beiläufig gefragt: „Na? Eine Urlaubsbekanntschaft?“ Eine Urlaubsbekanntschaft! Was für ein Wort. „Ja“, hab ich geantwortet, „eine Urlaubsbekanntschaft.“

Vorhin habe ich mich an meinen Schreibtisch gesetzt, eine von Jürgens Kassetten gehört, die ich genauso im Schrank versteckt habe wie die anderen Sachen von ihm, und einen Brief an ihn geschrieben. Mit einem Gedicht über die Mauer.

Ich möchte dich sehen und dich berühren, deine Haut auf meiner spüren. Doch die Mauer ist hoch und du bist weit weg, was soll ich nur machen, es hat keinen Zweck. Man kann Berge versetzen und Berge bezwingen, aber leider nicht einfach über die Mauer springen.

29. September 1985

Das ist unglaublich!! Jürgens Mutter ist noch viel schlimmer, als ich gedacht hatte. Sie hat MIR einen Brief geschrieben! Das muss man sich mal vorstellen!! Ich hatte mich schon gewundert, als ich im Briefkasten einen Brief mit einer Westbriefmarke fand, aber mit einer anderen Schrift als der von Jürgen. Noch im Fahrstuhl habe ich den Brief geöffnet. „Guten Tag, hier ist die Mutter von Jürgen“, fing er an. „Sie werden sicher überrascht sein, Post von mir zu bekommen.“ Weiter kam ich nicht. In dem Moment hielt der Fahrstuhl in der dritten Etage, und ausgerechnet der blöde Leske stieg mit einer Glühbirne in der Hand ein. Ich steckte den Brief schnell in meine Jackentasche, aber eine Ecke schaute noch raus.

„Na?“, fragte der Leske übertrieben freundlich und verrenkte seinen Hals. „Post bekommen?“ Ich hatte das Gefühl, der Leske durchleuchtet mit seinen Argusaugen meine Jackentasche. „Ja, von meiner Brieffreundin Ludmilla aus Nowosibirsk“, log ich und war froh, dass mir das eingefallen war. „So, so“, sagte der Leske nur. Er richtete einen schönen Gruß an Papi aus und stieg in der sechsten Etage aus. Kaum war die Tür zu, las ich weiter.

Jürgens Mutter schrieb, dass ich endlich ihren Sohn in Ruhe lassen und mir einen anderen suchen solle, wenn ich in den Westen will. Oder mich an Rechtsanwalt Vogel wenden soll, der ausreisewillige DDR-Bürger vertritt. DIE hat ja wohl einen Vogel!

Ich setzte mich auf eine Schaukel auf dem Spielplatz und las den Brief von dieser Anneliese, so heißt Jürgens Mutter, noch einmal von vorne. Ich bin noch immer total sprachlos. Wer redet denn hier von ausreisen??!! Ich will doch nur Jürgen wiedersehen, verdammt noch mal! Er weiß bestimmt nichts von diesem unglaublichen Brief. Der Arme. Was für eine Mutter. Die spinnt doch. Ich möchte mal sehen, wie es dieser blöden Westkuh gehen würde, wenn sie an meiner Stelle wäre. Wenn sie nicht reisen dürfte, wenn sie verliebt wäre und ihren Freund nicht sehen könnte. „Ich wünsche Ihnen alles Gute“, schrieb sie am Ende. Erst wollte ich mich sofort hinsetzen und ihr einen gepfefferten Antwortbrief schreiben. Aber dann dachte ich, dass das Porto rausgeworfenes Geld sei. Sie würde es ohnehin nicht verstehen.

10. Februar 1987

Bald fängt die nächste Leipziger Frühjahrsmesse an. Wenn ich schon nicht reisen darf, wollte ich wenigstens als Messehostesse auf der sogenannten Ost-West-Handels-Drehscheibe arbeiten. Schließlich kommen da jede Menge Teilnehmer aus Süd- und Mittelamerika, Spanien und Kuba. Also bin ich hin zum offiziellen Messebüro. Das hätte ich mir sparen können. Dort habe ich mehr oder weniger erfahren, dass diese Jobs vertrauensvollen Dolmetschern vorbehalten sind, was ja wohl heißt, dass die auf jeden Fall Parteimitglieder sind. Ich dachte, ich spinne!

Mir wurde angeboten, am Stand des Kühlschrankherstellers Foron zu arbeiten. Ich habe gefragt, ob es dort noch einen zweiten Job gibt, für Dany, damit es mehr Spaß macht. Und weil dem so war, habe ich angenommen. Trotzdem hab ich mich total aufgeregt, dass ich nicht an einem spanischsprachigen Stand arbeiten darf. Ich finde das alles manchmal so absurd.

7. März 1987

Dany und ich lachen uns schlapp auf der Messe. Der Kühlschrankhersteller ist mit seinem neuesten Fabrikat vertreten, für das sich Tausende Besucher interessieren. Unsere Aufgabe besteht darin, das Modell vorzuführen. Tür auf, hier die Eierablage, dort das Butterfach, hier das Tiefkühlfach, dort das Gemüsefach und immer der Hinweis auf das große Fassungsvermögen und ein nettes Lächeln. Die Messebesucher sind beeindruckt und wollen sich am liebsten eigenhändig von der Qualität überzeugen und alles anfassen.

Genau das müssen wir aber auf charmante Art verhindern. Denn der Kühlschrank ist nur ein Prototyp und noch weit davon entfernt, in Serie zu gehen. Und dann die Fragen der Besucher. Alle wollen immer nur eins wissen: „Wann gibt es den zu kaufen?“ Das weiß allerdings nicht einmal der Hersteller. Wir sagen dann immer, dass er bald im Handel sei. Was für ein Rumgeeiere! Und immer dieses „So tun, als ob“. Nie wieder mache ich so einen Job, bei dem man den ganzen Tag die Leute anlügen muss.

19. August 1987

Als ich aus Krakau zurückkam, war ein Brief von Jürgen da. Ich habe mich kaum getraut, ihn aufzumachen. Mein Herz hat zu rasen angefangen, als ich seine Schrift erkannt habe. Ich habe den Brief bestimmt eine Stunde auf dem Tisch liegen lassen. Na ja, eine halbe. Und dann habe ich ihn aufgerissen wie ein Westpaket. Mit zitternder Hand. Wirklich überrascht hat mich nicht, was darin stand.

Er hat geschrieben, dass es ihm noch nie so schwergefallen ist, einen Brief zu schreiben, dass sich seine Gefühle für mich nicht geändert haben, aber dass er keine Beziehung mit so einem hohen Erwartungsdruck führen kann. Und dass er sich manchmal selbst wünscht, risikofreudiger zu sein. Die entscheidenden Sätze standen am Schluss: „Die Mauer ist stärker als ich. Du anscheinend auch. Es tut mir leid. Ich küsse Dich! Auf Wiedersehen!“

Ich habe so geheult wie noch nie in meinem Leben. Es war ein stilles Weinen, das von ganz tief innen kam, direkt vom Herzen, so, als ob meine Tränen Blut wären und ich langsam, aber sicher verblutete. Seit diesem Moment habe ich eine Vorstellung davon, was es heißt, wenn es einem das Herz bricht.

Ich werde den Brief nicht sofort beantworten. Ich will nicht wieder etwas Unüberlegtes tun. Einerseits kann ich Jürgen verstehen. Aber andererseits auch nicht, überhaupt nicht. Er kann mich doch nicht einfach so vergessen, nur weil die Umstände schwierig sind! Aber vielleicht ist er da ganz anders als ich: Je komplizierter etwas erscheint, desto mehr reizt es mich.

31. August 1987

Ich war fest entschlossen, zur Herbstmesse, die übermorgen anfängt, endlich einen Job an einem spanischsprachigen Stand zu bekommen. Dieses Mal bin ich nicht erst zum offiziellen Messeamt gegangen, diesem volkseigenen Dienstleistungsbetrieb der Außenwirtschaft, sondern direkt zum Messegelände, um mir selbst Arbeit zu suchen.

Ich habe meine schicksten Klamotten angezogen und am Einlass so getan, als sei ich eine arrogante Westtrulla. „Wo ist der Stand von Spanien?“, habe ich gefragt und dabei hektisch auf meine Uhr geguckt, als sei ich zu spät dran. Die Kontrolle am Einlass haben Rentner gemacht, die mir das aufs Wort geglaubt und mir überfreundlich den Weg gezeigt haben. Nach einem Ausweis haben sie nicht gefragt. Es tat mir leid, sie so anzuranzen, aber es ging nicht anders.

Ich hatte total weiche Knie, als ich drin war, und war überrascht, wie einfach es gewesen war. Dann bin ich durch die Hallen spaziert, wo die Stände noch aufgebaut wurden. Ob Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay, Kolumbien, Spanien, Venezuela, Ecuador, Kuba oder Guatemala, die ganze spanischsprachige Welt lag mir zu Füßen.

Ich bin von Stand zu Stand gegangen und hab gefragt, ob sie noch eine Messehostesse brauchen. Am Stand von Uruguay hatte ich Glück. Die Leute dort erzählten mir, dass sie selbst die Putzfrauen über das Messeamt buchen und sehr viele Devisen dafür zahlen müssen. Deshalb machten sie mir folgenden Vorschlag: Sie beschäftigen mich am Amt vorbei und zahlen mir dafür nur die Hälfte des offiziellen Tarifs. Das ist für beide Seiten ein gutes Geschäft. Die Jungs aus Uruguay sparen allerhand, und ich verdiene 500 Westmark!

3. September 1987

Da habe ich mir ja was eingehandelt, mein lieber Scholli. Am ersten Messetag dachte ich, ich sehe nicht richtig. Am Stand von Uruguay wird, neben Bergen von Apfelsinen, echt gute Jeansmode ausgestellt! Am ersten Tag fiel mir in der Vitrine inmitten der vielen Jacken und Hosen ein Minirock ins Auge, der es mir sofort angetan hatte. Ich überlegte, wie ich es anstellen könnte, den zu bekommen. Weil fragen nichts kostet, fragte ich den Standleiter, ob ich den Rock nicht nach der Messe haben könnte. „Klaro“, erwiderte er. „Du kannst ihn sogar jetzt schon haben.“ Ich dachte erst, ich hätte ihn falsch verstanden. Aber nein. Er meinte tatsächlich, dass ich das scharfe Teil sofort bekommen könnte. Unter einer Bedingung: dass ich den Rock auf der Messe trage. Als Werbung sozusagen. Warum nicht?

Am nächsten Tag hatte ich ein paar dunkelblaue Feinstrumpfhosen mit kleinen Punkten und schicke Schuhe dabei und warf mich vor Messebeginn schnell in Schale. Stolz präsentierte ich den Rock. Erst da merkte ich, dass meine Freude ein bisschen voreilig gewesen war. Denn nach wenigen Minuten war klar, dass der Rest der Messe ein Spießrutenlauf werden würde. Der Rock ist nämlich wirklich sehr kurz und hat hinten am unteren Rand einen Reißverschluss, den man ein Stück aufmachen muss, damit man sich halbwegs bequem setzen kann. Wenn ich vorher gewusst hätte, worauf ich mich da einlasse, hätte ich vielleicht auf den Rock verzichtet. Obwohl. Ich glaube nicht. Sollen sie alle Stielaugen machen. Ist mir doch egal.

7. September 1987

Das wird immer verrückter mit dem Rock! Die Typen am Messestand, die natürlich ihre Jeansmode verkaufen wollen, rufen mich immer, wenn ein potenzieller Kunde da ist, und dann muss ich den Rock vorführen. Das finde ich mittlerweile ziemlich nervig und auch peinlich. Und gestern kam dann auch noch ein Fotograf! Der hat mich, zusammen mit einem Uruguayer, der sich eine der stonewashed Jacken angezogen hat, fotografiert. Weil Uruguay für seine Jeansmode eine Goldmedaille bekommen hat. Keine Ahnung, für welche Zeitung oder Zeitschrift die Bilder sind. Aber ich muss zugeben, es hat schon Spaß gemacht, mit der Goldmedaille und den Klamotten zu posieren.

5. Dezember 1987

Ich glaub’s nicht! Gestern saß ich mit einigen Lateinamerikanern in der Mensa. Wir tranken Bier und redeten, als Armando, der Mexikaner, dazukam, den ich lange nicht gesehen hatte. Er ist total im Prüfungsstress und war zwischendurch in Mexiko. Kaum hatte er sich hingesetzt, zog er eine Zeitschrift aus seiner Tasche und gab sie mir. Sie war in Spanisch und heißt El Puente, die Brücke. Das ist eine Zeitschrift, die die DDR für befreundete Länder in Lateinamerika herausbringt. Weil die nur in Botschaften und Konsulaten ausliegt und ansonsten in die Bruderländer geschickt wird, hatte ich sie logischerweise noch nie gesehen.

Nach einigen Seiten war klar, dass die DDR einen Haufen Geld ausgibt, um in spanischer Sprache ein rosarotes Bild von ihrem Arbeiter-und-Bauern-Staat zu zeichnen. Schnell langweilte ich mich und wollte ihm die Zeitschrift zurückgeben. Er sagte, ich solle weiterblättern. Es würde sich lohnen. Also blätterte ich weiter. Und traute meinen Augen nicht. Auf Seite 12 sah ich ein ganzseitiges Foto vom uruguayischen Messestand! Darauf war ich zu sehen mit dem Minirock und der Goldmedaille in der Hand, neben mir der Typ mit der Jeansjacke. Unter dem Foto stand ein Kommentar, über den ich mich total beeumelt habe: „Auch das gehört zur Messe: Modelle zeigen zum ersten Mal Jeanskleidung am Stand von Uruguay und die dafür verliehene Goldmedaille.“ Neben dem Foto war ein ellenlanger Artikel, in dem die dynamische Entwicklung der DDR in ihrer 38-jährigen Existenz so euphorisch gefeiert wurde, dass ich dachte, das kann unmöglich das Land sein, in dem ich lebe.

15. Juni 1988

Ich habe manchmal das Gefühl, zu ersticken. Es ist schwer, dieses Gefühl zu beschreiben. Aber für genau so Sachen ist ja auch das Tagebuch da. Da muss man sehen, dass man Verworrenes, Unausgegorenes, Unbestimmtes in Worte und Sätze packt. Also will ich es versuchen. Eigentlich geht es mir ganz gut. Ich hab meine eigenen vier Wände, studiere was, was mir gefällt, zumindest die Sprachen, muss mir um meine Zukunft keine Gedanken machen. Das ist aber genau das Problem. Ich habe es satt, dass alles für mich von oben, vom Staat, geregelt wird. Vom Kindergarten bis zur Rente, von der Wiege bis zur Bahre, alles ist vorgezeichnet. Ob ich Abi machen darf oder nicht, entscheiden andere. Welche Sprachen ich studiere, legt die Uni fest. Wo ich später arbeite, regelt auch die Uni.

Die meisten Kommilitonen empfinden das als Sicherheit. Für mich ist es Kontrolle. Es ist doch MEIN Leben, und damit will ich machen, was ich will!! Und wenn ich dabei auf die Schnauze fliege, ist das auch mein Problem. Aber nein, stattdessen immer dieser Gruppenzwang im Kollektiv. Nur das Wir zählt, das Ich nicht. Ich kann das kaum noch ertragen. Noch ein Jahr bis zum Studienende. Manchmal weiß ich nicht, wie ich das schaffen soll.

Das hat zur Folge, dass ich so ziemlich alles ablehne. Das Einzige, was mich wirklich interessiert, ist, Verbote zu umgehen. Das sind meine kleinen Glücksmomente. Eine lächerlich kleine Rache, an der auch nur ich mich freuen kann und ein paar wenige Eingeweihte. Das ist doch kein Leben!

8. November 1989

Ich schalte ständig hin und her zwischen Ost- und Westfernsehen. In der „Aktuellen Kamera“ hat die Schriftstellerin Christa Wolf heute einen Aufruf an alle DDR-Bürger verlesen, im Land zu bleiben. In der „Tagesschau“ sieht man jeden Tag Tausende, die in den Westen abhauen. Bleiben oder gehen? Bleiben oder gehen? Mit dieser Frage muss ich mich nicht mehr quälen. Ich will weg. Da bin ich ganz sicher. Nur manchmal beschleicht mich ein schlechtes Gewissen. Sollte man nicht lieber bleiben und sich für eine bessere DDR einsetzen? Was wird aus Papi und Ralf? Es bricht mir fast das Herz. Aber habe ich nicht auch ein Anrecht auf mein eigenes Leben? Bin ich zu egoistisch?

15. November 1989

Nach etwa drei Stunden und ich weiß nicht mehr wie vielen Sichtungs- und Weisungsstellen samt Stempeln bekam ich endlich, endlich das entscheidende Papier: den Aufnahmeschein. Ich dachte, der Rest wäre jetzt nur noch reine Formsache und zum Abendessen wäre ich bei Birgit.

Die Frau, die meinen Antrag bearbeitete, spannte routiniert das Papier in eine Schreibmaschine und tippte Geburtsdatum, Geburtsort, Ort des Grenzübergangs, Tag des Verlassens der DDR und den letzten Wohnsitz ein. Zu meiner großen Überraschung zahlte sie mir 200 Westmark aus, eine sogenannte einmalige Überbrückungshilfe.

Nicht schlecht. Nachdem sie noch einige Daten eingetippt hatte, riss sie den Bogen aus der Maschine, setzte einen Stempel und ihre Unterschrift darunter. Und dann sagte sie einen Satz, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Die Schlange für die Abfertigung in das Durchgangswohnheim in Rheinland-Pfalz ist gleich dort hinten.“ Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen schaute ich sie an. Ich war fassungslos. „Was soll ich denn in Rheinland-Pfalz?“, fragte ich. „Sie dürfen nicht in Berlin bleiben.“ Die Frau erklärte mir, dass Westberlin bereits seine Quote für die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen erfüllt habe und deshalb nur noch diejenigen hierbleiben dürften, die in Ostberlin geboren wurden oder gelebt haben. „Das ist bei Ihnen ja nicht der Fall“, stellte sie fest. Es war, als ob mir jemand mit der Faust in die Magengrube geschlagen hätte. Sie drückte mir das Papier in die Hand und forderte mich noch einmal auf, mich in der Abfertigungsschlange nach Rheinland-Pfalz anzustellen.

Wie in Zeitlupe entfernte ich mich von dem Schreibtisch. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich hatte Angst, ohnmächtig zu werden. In meinem Kopf hallte noch der Satz: „Sie dürfen nicht in Berlin bleiben“, und es klang wie ein Vollstreckungsbefehl. Ich warf einen Blick auf meinen Aufnahmeschein mit der Nummer 928.065. Dort stand schwarz auf weiß Rheinland-Pfalz als Aufnahmeland und in der Rubrik „Gegenwärtige Anschrift“ las ich Landesdurchgangsheim Osthofen und irgendeine Straße.

Ich starrte fassungslos auf das Papier, das festlegte, wohin meine Reise gehen sollte. Ich war doch jetzt im Westen!!! Und wieder wollen andere über mich bestimmen??? Ich musste mich setzen. Nie im Traum wäre ich auf die Idee gekommen, dass ich nicht in der Stadt leben kann, in der ich will. Mich trennten nur noch wenige Meter von der Rheinland-Pfalz-Abfertigungsschlange, doch meine Füße trugen mich nicht dorthin. Die können mir doch nicht vorschreiben, wo ich zu leben habe!, schoss es mir durch den Kopf. Niemand kann mich zwingen, in dieses Bundesland zu gehen, von dem ich nicht mal genau weiß, wo es eigentlich liegt. Langsam, ganz langsam ging ich Richtung Ausgang. Fast auf Zehenspitzen. Ich hatte Angst, dass mich ein Ruf wie „Junge Frau, wo wollen Sie denn hin?“ wie eine Kugel im Rücken treffen könnte.

Und da war es auf einmal, dieses Gefühl, dieser große Knall, dass ich jetzt im Westen bin! Immer noch langsam, aber zielstrebig näherte ich mich dem Ausgang. Wer sollte mir das verbieten?! Und in der Tat: Niemand kümmerte sich um mich.

Ich konnte gehen, wohin ich wollte! Das war der Westen, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Als ich das Gelände verlassen hatte, nahm ich die Beine in die Hand, als könnte mich doch noch jemand verfolgen, und lief in einem Affenzahn bis zu der Eckkneipe, wo ich einige Stunden zuvor schon gesessen hatte. Atemlos bestellte ich mir einen Wodka und stürzte ihn hinunter. Jetzt muss ich ins Bett. Ich kann nicht mehr.

BARBARA BOLLWAHN, 43, war 15 Jahre Reporterin der taz. Der Text ist ein Auszug aus ihrem soeben erschienenen zweiten Jugendroman, „Der Klassenfeind und ich“ (Thienemann Verlag, Stuttgart, 272 Seiten, 13,90 Euro). Dort erschien auch ihr erstes Buch, „Mond über Berlin“. Zum 1. August verlässt Barbara Bollwahn die taz, um hoffentlich noch mehr Jugendbücher zu schreiben