Die Zauderkünstler

Soll ich’s wirklich machen, oder lass ich’s lieber sein? Fettes Brot, „Jein“, 1996

Ulrich Matthes hat in einem Interview mal einen Satz gesagt, der mich zunächst verstört und dann beeindruckt hat: „Ich will nicht immer souverän sein.“ Verstört, weil ich so nicht bin. Beeindruckt, weil ich so gern wäre.

Nun ist Matthes ja Schauspieler und wird dafür bezahlt, sich zu entblößen: auf der Bühne, vor der Kamera und auch in Interviews. Und ein einsilbiger, verschlossener Matthes ist nicht gerade gut fürs Geschäft. Es sei denn, er hätte dieses Verhalten frühzeitig perfektioniert und wäre als Grantler vom Dienst ebenso berühmt wie berüchtigt.

Mich hat nie jemand dafür bewundert, wie ich bin – geschweige denn dafür bezahlt. Ich bin ja auch kein Schauspieler. Und gehöre doch als Souveränitätsdarsteller zu den ganz Großen meines Fachs. Nur kein Neid – ich bin selber nicht sonderlich stolz darauf. Doch vielleicht ändert dieser Text ja was, denn ich werde mich entgegen meiner Gewohnheit entblößen – mal gucken, wie weit ich gehe. Ich bitte allerdings hiermit schon mal um Verständnis dafür, wenn das Höschen anbleiben sollte.

Merken Sie was? Es geht schon wieder los. Anstatt zu sagen, sorry, wahrscheinlich bin ich eh zu feige, flüchte ich mich in ein Witzchen, um mich zu schützen. Aber wovor? Vor Lesern, die ich nicht kenne, und deren Urteil über mich. Irrational, aber leider wahr. Es könnte, es sollte mir egal sein. Ist es aber nicht. Da ist es nur konsequent, wenn ich Bekannten gegenüber die Selbstironie bis zur Selbstverleugnung steigere, sobald ich das Gefühl habe, dass mir jemand zu nahe kommt – so nahe, dass er oder sie mich verletzen könnte, irgendwann mal. Ich spinne? Weiß ich. Aber die Paranoia ist stärker.

Andererseits sehne ich mich nach Nähe, sehr sogar. Ich vergöttere meine Freunde – allein dafür, dass sie meine Deckung durchbrochen haben. Und mache selbst ihnen manchmal was vor. Dafür, dass sie das meistens durchschauen, vergöttere ich sie gleich noch mehr. Und spüre doch, dass ihnen meine überbordende Zuneigung zuweilen unheimlich ist.

Mag sein, dass ich damit kompensiere, (im Gegensatz zu den meisten meiner Freunde) Single zu sein. An mir soll’s nicht liegen – sagt man immer so, ist natürlich totaler Quatsch. Ich bin verdammt anspruchsvoll und wundere mich, dass die Frauen nicht Schlange stehen. Ich habe die Messlatte bewusst hochgelegt, sehr hoch – zu hoch?

Nicht nur darin halte ich mich für ein Kind meiner Zeit. Nur deswegen breite ich das alles hier aus. Wer heute Mitte zwanzig ist, hat vor allem ein zweifelhaftes Talent: Sich selbst im Weg zu stehen und so zu tun, als wäre der Weg frei wie in dieser Bankwerbung, mit der wir aufgewachsen sind.

„Die neue Eigentlichkeit“ hat Georg Diez, Jahrgang 1969, in der Jubiläumsausgabe der Zeitschrift Tempo diese „Ideologie, die zum Lifestyle geworden ist“ genannt, „dieses Leben im Wartestand“. Wir bedienen uns eines Vokabulars des Zauderns: Neben „eigentlich“ gehört „vielleicht“ zu unseren Lieblingswörtern. Regelmäßig möchte ich Freunde anbrüllen, die schon wieder dieses Unwort im Munde führen. Möchte ihnen sagen, dass Freundschaften per se nicht unverbindlich sind und ich deswegen eine Zusage von ihnen erwarte – Absage geht zur Not auch. Was nicht geht, ist dieses ewige Vielleicht. Mal gucken. Lass uns später telefonieren. Ich schick dir ’ne SMS.

Ich verkneife mir derartige Belehrungen natürlich meistens. Auch wenn meine Vielleichtallergie sicherlich besonders ausgeprägt ist, glaube ich fest daran, dass dieses ewige Vielleicht niemandem gut tut. Wir halten uns alle Optionen offen, weil wir denken, dass es uns glücklich macht, uns nicht festzulegen. Das Gegenteil ist der Fall. Weil wir uns immer alle Optionen offenhalten, lassen wir permanent Gelegenheiten verstreichen, die uns glücklich machen könnten.

„Also, ich könnte das ja nicht“, sagen wir ehrfürchtig zu Gleichaltrigen, die schon fünf Jahre eine Beziehung führen oder auch zehn oder sogar schon verheiratet sind. Dabei bewundern wir diese Pärchen gar nicht dafür, dass sie es so lange miteinander ausgehalten haben, sondern dafür, dass sie es überhaupt miteinander versucht haben. Wir finden nämlich immer ein Haar in der Suppe: falsche Zeit, falsche Haarfarbe, falsche Blutgruppe. Meine Eltern sind geschieden – genau wie die meiner besten Freunde. Wir misstrauen der Institution Ehe, sehnen uns aber zugleich nach Verbindlichkeit. Es sind gerade diese Freunde, die langfristig denken, wenn sie eine Freundin haben: Hochzeit, Kinder (natürlich mit Namen), Häuschen im Grünen – das volle Programm. Noch hat es nicht geklappt, aber sie haben es wenigstens versucht.

Die Stadtmagazine sind voll von verpassten Chancen. Ein Bus, eine Bar, ein Blickkontakt, ein Lächeln, ein kurzer Plausch über van Gogh oder so. Und dann geht man auseinander, ohne Nummern auszutauschen. Und ärgert sich tagelang darüber. Sogar die Berliner Verkehrsbetriebe haben auf ihrer Website ein Fundbüro für all diejenigen eingerichtet, die unterwegs ihr Herz an eine/n Unbekannte/n verloren haben.

Neulich habe ich sie angesprochen. Wir waren uns schon mehrmals in diesem Café begegnet, immer hatten wir beide unseren Laptop dabei. Nachdem wir uns wiederholt angelächelt und dabei tief in die Augen geschaut hatten, habe ich sie gefragt, ob wir uns nicht mal ohne Computer treffen wollen. Sie lächelte und gab mir ihre Nummer. Ich schrieb ihr eine SMS mit einigen netten Worten. Keine Antwort. Nun fehlte mir erst recht der Mut, anzurufen. Also schrieb ich ihr ein paar Tage später noch mal – so, als wäre nichts gewesen. Wieder nichts. Hatte Sie etwa eine falsche Nummer aufgeschrieben, um mich nicht vor den Kopf zu stoßen? Aber sie hatte doch immer so offensiv gelächelt. Ich wurde richtig sauer.

Ein paar Tage später habe ich sie wieder in dem Café getroffen. Diesmal hatte sie nicht ihren Laptop dabei, sondern eine Freundin. Ich habe sie nicht auf ihr skandalöses Verhalten angesprochen, für das es bestimmt keine „ganz einfache Erklärung“ gibt. Sonst hätte sie ja jetzt einfach auf mich zukommen können. Ich Souveränitätsdarsteller blieb also sitzen. Die Blöße wollte ich mir nicht geben. Nur nicht zeigen, dass sie mich verletzt hat.

Mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich hätte hingehen und sie zur Rede stellen sollen, ihr klarmachen sollen, dass ihre kleine Lüge mehr Schaden anrichtet als die schmerzhafteste Wahrheit (Freund, kein Interesse, Mitglied einer inzestuösen Religionsgemeinschaft), und ihrer Freundin gleich mit. Doch ich war mal wieder zu feige.

DAVID DENK, Jahrgang 1981, lebt in Leipzig und Berlin, arbeitet als Medienredakteur für die taz und als Autor für andere