documenta: Verpasste Chancen

Wie die documenta 12 die Kunst um ihren politaktivistischen Schneid gebracht hat, lässt sich an Zoe Leonhard zeigen.

Gut gelaunt, aber wenig Freude an politischer Kunst: Kuratorenpaar Buergel und Noack. Bild: ap

Die documenta 12 stellt die Inszenierung der Kunst in den Vordergrund. Ihre Präsentationsweise müht sich darum, die einzelnen Werke um jeden Preis mit Aura aufzupolstern. Gemälde werden dramatisiert, indem sie isoliert vor monumentaler einfarbiger Wand inszeniert werden, kleinere Skulpturen, indem sie auf Sockeln platziert werden. Diese Veredelungsstrategie, die das rein Formale betont, dient dem Aufladen der Werke mit musealer Würde - allerdings geschieht dies auf Kosten der Gehalte.

Im Falle von Fotografien besteht das beliebte Verfahren, die Gehalte zurückzudrängen und das rein Formale in den Vordergrund zu spielen, darin, auf Beschriftung zu verzichten. Denn dann bleiben, wie bereits Walter Benjamin feststellte, ihre Aussagen im Ungefähren stecken.

Beispielhaft lässt dich dieser Ansatz auf der documenta 12 in mehrfacher Hinsicht an Zoe Leonard erläutern. Ihre Arbeit "Analogue", die im Aue-Pavillon untergebracht ist, besteht aus mehr als 400 Fotografien. Die Bilder berichten von städtischen Veränderungsprozessen und zeichnen das langsame Verschwinden kleiner Läden und ihren Überlebenskampf in New Yorker Vierteln nach. Den Gegenpol dazu bilden Aufnahmen von Marken-Logos aus der globalisierten Welt, so beispielsweise aus Uganda oder Kuba. Die Kasseler Inszenierung neutralisiert die Bilder, indem sie auf genaue Beschilderung verzichtet. So kann das Ensemble ganz allgemein im Sinne einer Migration der Form aufgefasst werden. Dass solches Entschärfen nicht geboten ist, wird anderswo gezeigt: Auf der "Analogue"-Ausstellung im Wexner Center for the Arts in Columbus, Ohio, sind die Fotos mit Orts- und Jahresangaben versehen, damit die weltpolitischen Bezüge deutlich werden können.

Im Zusammenhang mit der Tendenz, die Gehalte der Werke in den Hintergrund zu drängen, wird auch auf der gegenwärtigen documenta wieder das weite Feld des künstlerischen Aktivismus ausgeblendet. Dieses bewusste Ausgrenzen zeigt sich deutlich daran, dass Roger Buergel und Ruth Noack, das Kuratorenpaar, zwar bei einigen KünstlerInnen einige Jahrzehnte in die Vergangenheit gegangen sind und das Umfeld ausgelotet haben - bei anderen aber nicht. So reicht die Spanne bei John McCracken von frühen Arbeiten aus den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart, ebenso verhält es sich bei Martha Rosler oder auch bei Trisha Brown. Auffällig ist nun, dass das Kuratorenpaar bei Zoe Leonard, die eine der Stars der documenta IX von 1992 war, von dieser an sich sinnvollen Strategie abweicht.

Bei ihr beschränkt sich die gegenwärtige documenta 12 auf die Präsentation von "Analogue". Ihre früheren Jahre und vor allem ihre weitreichenden künstlerischen Betätigungsfelder sind gänzlich ausgespart. Schon 1992 hatte Stefan Germer dem künstlerischen Leiter der damaligen documenta, Jan Hoet, vorgeworfen, Zoe Leonard als Einzelkünstlerin eingeladen zu haben, statt das Verhältnis von politischem Aktivismus und Kunstproduktion zu thematisieren. Und das hält sich bis heute durch.

Worauf sich Germers Kritik richtet, möchte ich kurz an den Ursprüngen und den gegenwärtigen Praktiken des künstlerischen Aktivismus in den USA beleuchten. Nicht zuletzt durch den kunstpolitischen Aderlass durch Diktatur und Krieg entwickelten sich die Kunstwelten in Deutschland und in den USA unterschiedlich. Damals waren die meisten Bauhaus-Lehrer und Dadaisten in die USA emigriert. Dadurch trocknete der avantgardistische Zweig in Deutschland aus, während diese Infusion in der Neuen Welt Früchte trug. Seit den 1960er-Jahren finden auch deshalb ästhetische Reaktionen auf politische Problemlagen in den kulturellen Zentren der USA in hauptsächlich zwei unterschiedlichen Formen statt.

Im einen Fall handelt es sich um einen Kunsttypus, der gesellschaftliche Probleme zum Inhalt eines individuellen Werks macht. Es handelt sich dann um traditionelle Kunstwerke, die Themen kritisch aufgreifen, also um Gemälde, Fotografien, Schauspiele, Romane oder Gedichte über politische Probleme. Dieser Typ politischer Kunst bleibt, was nach Peter Bürger für alle Werke der "Hochkultur" charakteristisch ist, von der Alltagswelt abgehoben.

Im anderen Fall geht es dagegen um einen Kunsttypus, der durch eine Veränderung der Funktion der Kunst in der Gesellschaft bestimmt ist. Dieser künstlerische Aktivismus greift die Errungenschaften der Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts auf, er ist der kulturellen Beteiligung an politischen Aktionen verpflichtet. Meist entsteht er in Kollektivbewegungen, um die Ziele der Bewegungen zu artikulieren - und dadurch auch zu produzieren. Weil sich diese künstlerischen Praktiken meist in Formen von pragmatisch nutzbaren Gebrauchsgrafiken und -filmen ausdrücken, verharren sie nicht in der Abgeschiedenheit von Galerien, sondern zielen vielmehr auf eine wirksame Verbindung von Alltagsleben und ästhetischer Produktion.

Die jüngste Welle dieses künstlerischen Aktivismus entwickelt sich seit den frühen 1990er-Jahren in New York in Form von Künstlerkollektiven. Die meisten ihrer Mitglieder bespielen heute das internationale Parkett der Kunstwelt, ihre Werke waren bahnbrechend. Zoe Leonard arbeitete unter anderem in den Gruppen "Fierce Pussy" und "Gang", die jeweils etwa zehn Mitglieder umfassten.

"Fierce Pussy" kämpfte gegen Homophobie, die damals, auf dem Höhepunkt der Aids-Krise, bedrohliche Ausmaße angenommen hatte. "Gang" ging es um das Recht der Selbstbestimmung des eigenen Körpers, sowohl HIV-Infektion wie Geburtenkontrolle betreffend. Eines ihrer Plakate, mit George Bush sen. vor Marlboro-Rot, attackierte die schlechte Gesundheitsversorgung während des Golfkrieges 1991. Der für Zigarettenwerbung vorgeschriebene Warnhinweis war umformuliert: "Während Bush Milliarden ausgibt, um Cowboy zu spielen, haben 37 Millionen Amerikaner keine Gesundheitsversicherung. Alle acht Minuten stirbt ein Amerikaner an Aids." In einem anderen Plakat bezog Gang eine Gegenposition zum konservativen Versuch, ein Gesetz ("Title X") zu verabschieden, das Eheberatungsstellen und Ärzten verbieten sollte, das Wort "Abtreibung" in ihrer Beratung auch nur zu benutzen. Über einer Vagina steht der idiomatische Ausdruck "read my lips", der sinngemäß übersetzt wird als "pass mal genau auf!", wörtlich jedoch auch als "lies meine Lippen" aufgefasst werden kann. Darunter die Zeile "bevor sie versiegelt sind". Gang schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen zeigt das provozierende Plakat Flagge gegen die Anti-Porno-Fraktion des Feminismus (die in den USA stets starke Gegnerinnen hatte), zum andern heizte es die kritische Diskussion des angestrebten Maulkorbgesetzes an - das schließlich abgewehrt werden konnte. Zoe Leonard machte übrigens das "Lips"-Motiv zum Kern ihrer Installation auf der documenta IX.

Aus dem Netzwerk dieses künstlerischen Aktivismus bildete sich später - im Herbst 2004 - im East Village Manhattans, als der Präsidentschaftswahlkampf tobte, eine neue Gruppe, die ebenfalls politisch und künstlerisch Partei ergriff. Ihr Ziel war es, den amtierenden Präsidenten George W. Bush loszuwerden, der die Bevölkerung belogen hatte, um einen unseligen Krieg anzuzetteln. Die Gruppe entwarf das Motiv "Im voting Bush out", das von einer Internetseite für den persönlichen Gebrauch heruntergeladen werden konnte. Nach der beigegebenen Gebrauchsanleitung konnten die Druckvorlagen verschiedener Größen benutzt werden, um Plakate, Aufkleber, T-Shirts oder Transparente herzustellen. Die funktionale Gestaltung ist auf einem Kleinlastwagen selbst im Verkehrsfluss gut lesbar.

Die US-Kunstwelt trägt dem künstlerischen Aktivismus Rechnung. So waren auf der Barbara-Kruger-Retrospektive des Whitney Museums in New York, die vor einigen Jahren stattfand, selbstverständlich die Demonstrationsaufrufe und politischen Plakate der Künstlerin neben jenen Werken ausgestellt, die für Galerien bestimmt waren. Dazu zählt das berühmte "Your Body Is A Battleground" (Dein Körper ist ein Schlachtfeld), das zu einer großen Demonstration in Washington aufrief. Zu sehen war auch das Plakat mit dem Bild des New Yorker Kardinals OConnor, dem die Künstlerin den Spitznamen "Pope Fetus I" (Papst Fötus I.) verpasst hatte, weil er als einer der Hardliner der katholischen Kirche beharrlich daran arbeitete, die errungenen Selbstbestimmungsrechte wieder rückgängig zu machen.

In den USA sind, wie diese Beispiele zeigen, die aktivistischen Kunstpraktiken durchaus lebendig. Indem sie jedoch den ästhetischen Aktivismus verschweigt, schwingt sich die Documenta-Leitung auch 2007 noch auf, selbstherrlich genau den Strang der künstlerischen Aktivität wegzubügeln, der die Errungenschaften des ehedem durch Diktatur und Krieg aus Europa vertriebenen Avantgardismus fortführt. Gleichwohl kann auch diese Kunstshow, obwohl dem Kunstgefühl des konservativen Bildungsbürgertums verpflichtet, die wachsende Bedeutung des internationalen Austauschs nicht ignorieren. Die Chinesin Hu Xiaoyuan stickte - auch das ist in Kassel zu sehen - subtile Zeichnungen mit eigenem Haar auf Seide. Der Südafrikaner Guy Tillim schildert - als Fotoreporter - den Wahlkampf des Jahres 2006 im Kongo. Tatsächlich kann die Kunstwelt heute nur noch weltumspannend gedacht werden. Dadurch wird die Hoffnung genährt, dass die segensreichen Wirkungen der kulturellen Globalisierung schließlich doch eine der künftigen documentas aus dem Dornröschenschlaf der Nachkriegszeit wach rütteln wird.

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