jugend liest
: Erfahrungen der Fremdheit: Kinder- und Jugendbücher über Urlaubs- und sonstige Reisen

Sunny hat es gut. So gut, dass es schon wieder langweilig ist. Und so tut das Erdmännchen das, was die meisten Menschen in Deutschland, denen es gut geht, auch gerade tun: Er verreist. Denn Sunny sucht den perfekten Ort zum Leben. Aber kaum ist er fort, erscheint ihm das, was er zurückgelassen hat, eigenartig sympathisch. Mit jedem Kilometer, den er sich von daheim entfernt, wächst seine Wertschätzung des eigenen Clans. Die Idee liegt nahe, dass der eigentliche Sinn des Reisens weniger darin besteht, das Andere zu finden, als sich selbst in seiner Lebensweise zu bestätigen. Deshalb ist das Fremde auch nur in niedriger Dosierung bekömmlich. Und so überrascht es nicht, dass Sunny immer einen Grund sucht, bald wieder aufzubrechen: Mal ist es ihm zu nass, mal zu dunkel, oder ihm jucken die Füße. Erst als er wieder zu Hause ankommt, ist er zufrieden.

Es gehört zur bekannten Dialektik des Reisens, dass gerade die Erfahrung des Fremden zum Erleben des Eigenen führt. Doch selten gelingt dies ohne Ab- oder Aufwertung einer Seite. Joseph Lemasolai Lekuton ist da eine Ausnahme, was auch daran liegen mag, dass ihm die Kategorie des Perfekten fremd ist. Lekuton ist eben kein Erdmännchen und auch kein europäischer Urlauber, der unter einem merkwürdigen Rechtfertigungsdruck steht. Joseph ist ein Massai aus Kenia, für den das Reisen – wenn man sein Nomadentum denn so nennen will – die Lebensgrundlage bildet. Doch beim Umherziehen sorgen die festen Traditionen der Dorfgemeinschaft dafür, dass das Unbekannte auf ein Minimum reduziert wird – darin ähneln die Massai den europäischen Urlaubern in den Inclusive-Clubs der Welt. Und so ist es schließlich gar nicht das Reisen, sondern die Schule, mit der das Fremde in die Welt der Nomaden eindringt. Die Geschichte des Nomadenjungen Joseph Lemasolai Lekuton, der eine Schule besuchen darf und später ein Stipendium bekommt, mit dem er in den USA studiert, beeindruckt durch die Gelassenheit, mit der Joseph das Fremde fremd und das Eigene vertraut sein lässt. Er verspürt keinen Drang, die nomadische Lebensweise gegen die westliche abzuwägen. Er wertet nicht. Die unterschiedlichen Daseinsformen begreift er als etwas Gewachsenes, dass wie alles Lebendige seine Möglichkeiten und Grenzen hat. Auf dieser Grundlage kann sich der Erzähler in Freiheit entfalten. Und so erfährt der Leser Erstaunliches über Beschneidungsrituale, Löwenjagd, Kinderspiele in der Savanne und darüber, was es bedeutet, von einem Dorf statt von einer Familie erzogen zu werden.

Welche Schwierigkeiten entstehen, wenn das Fremde als bedrohlich erlebt und vorschnell gewertet wird, erzählt die in Istanbul geborene und in Frankfurt am Main lebende Autorin Aygen-Sibel Celik. In ihrem Roman sind kopftuchtragende Frauen das Fremde schlechthin, auf das sogar in Deutschland lebende Muslime mit Angst und Ablehnung reagieren. Kopftuch gleich Fundamentalismus gleich Terrorismus, lautet die Gleichung, die für größtmögliche Ungleichheit sorgt. Die junge Türkin Sinem aber will es wissen und probiert einfach mal aus, was passiert, wenn sie mit Kopftuch in die Schule geht. Die Reaktionen sind erschütternd feindselig, selbst in der eigenen Familie. Um Fremdheitserfahrungen zu machen, muss niemand verreisen – auf diese banale Einsicht reagiert Celik, indem sie Nachhilfe zum Thema gibt. Das ist lehrreich, aber gleichzeitig begibt sie sich in eine Rechtfertigungshaltung, die ihrer Erzählung viel Kraft entzieht. ANGELIKA OHLAND

Emily Gravett: „Post vom Erdmännchen“. Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn. Sauerländer, Düsseldorf, 15,90 Euro Joseph Lemasolai Lekuton: „Facing the Lion“. Aus dem Englischen von Werner Petermann. Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 131 Seiten, 12 Euro Aygen-Sibel Celik: „Seidenhaar“. Verlag Carl Ueberreuter, Wien, 143 Seiten, 9,95 Euro