RAF: Wie aus Susanne die Ingrid wurde

Vor 30 Jahren erschossen RAF-Terroristen Jürgen Ponto. Unter den Attentätern: Susanne Albrecht. Neue Stasi-Unterlagen belegen, wie akkurat sie sich in der DDR eine neue Identität zulegte.

"Hier ist die Susanne" - den Besuch seiner Patentochter überlebte Jürgen Ponto nicht. Bild: dpa

Es müssen einsame Stunden gewesen sein, in denen die Frau mit dem neuen Namen Jäger ihren Lebenslauf paukt. "Ich, Ingrid Jäger", schreibt sie auf ein kariertes DIN-A4-Blatt, "wurde am 10. 4. 1951 als erstes Kind meiner Mutter Ruth Jäger, geborene Walther, und meines Vaters Ernst Jäger in Madrid geboren." Der Vater stamme aus München und sei Textilkaufmann, notiert sie weiter, und die Schwester sei 1953 in Köln zur Welt gekommen. Schließlich: "Meine Eltern und meine Schwester wanderten 1975 nach Kanada aus. Ich habe keine Verbindung mehr zu ihnen." Bis auf das eigene Geburtsjahr und die Tatsache, dass es eine jüngere Schwester gibt, stimmt an diesen biografischen Daten nichts. Sie sind vielmehr ein neuer Anlauf, eine neue Legende für ein neues Leben in einem neuen Land.

Aus dem Mitte 1977 in der Bundesrepublik untergetauchtem Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) Susanne Albrecht soll Ingrid Jäger werden, eine wissenschaftlich-technische Mitarbeiterin an der Sektion für Fremdsprachen an der Hochschule für Bauwesen in Cottbus. Und der neue Lebenslauf muss sitzen, denn seit der "Offensive 77", der Mordserie der RAF zur versuchten Freipressung der in Stuttgart-Stammheim inhaftierten Genossen um Gudrun Ensslin und Andreas Baader, wird Susanne Albrecht international gesucht.

1. März 1951: Susanne Albrecht wird in Hamburg als Tochter eines renommierten Anwalts für Seerecht geboren.

1971: Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie an der Universität Hamburg.

April/Mai 1973: Hausbesetzung in der Hamburger Hafenstraße - zusammen mit den anderen späteren RAF-Mitgliedern Wolfgang Beer, Karl-Heinz Dellwo, Christine Dümlein, Christa Eckes, und Bernhard Rößner.

1976: Erste Staatsprüfung für Volks- und Realschullehrer.

30. Juli 1977: "Türöffner" bei der Ermordung des mit der Familie Albrecht eng befreundeten Bankiers Jürgen Ponto.

1978/79: Aufenthalt in einem palästinensischen Ausbildungslager im Jemen.

1. September 1980: Einbürgerung in die DDR.

6. Juni 1990: Verhaftung in Berlin-Marzahn.

3. Juni 1991: Nach umfassendem Geständnis zu einer zwölfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

1996: Haftentlassung.

Heute: Deutschlehrerin für Kinder ausländischer Herkunft in Bremen.

Es sind bemerkenswerte 43 handgeschriebene Seiten, die im Frühjahr dieses Jahres aus dem Nachlass des früheren Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) auftauchen und die zeigen, wie akkurat Susanne Albrecht ihren neue Vergangenheit einstudierte. "Als ich zwei Jahre alt war", schreibt die 1980 in die DDR geflüchtete Terroristin, "wurde am 26. 3. 53 meine Schwester Sabine geboren. Weil meine Mutter jetzt ganz mit uns beschäftigt war, holte mein Vater eine Angestellte ins Geschäft [] Wir bekamen jeder einen Holzroller und durften dann auf der Straße Roller fahren." Aus Albrechts Vater, einem in Hamburg sehr erfolgreichen Anwalt für Seerecht, wird in der Legende "ein zwar reicher Mann, aber er hatte sich ausgerechnet, dass er mit seinem mittleren Geschäft in Zukunft der Konkurrenz der großen Kaufhäuser nur schwer standhalten würde". Deswegen habe er "beschlossen, eine neue Existenz in Kanada aufzubauen".

Diese Aufzeichnungen von Susanne Albrecht dürfte es eigentlich gar nicht geben. Denn dass die DDR zehn ehemalige Kämpfer der RAF aufgenommen hatte, war eines der größten Geheimnisse im Arbeiter- und Bauernstaat. Nur ein handverlesener Kreis innerhalb der Stasi kannte die Vorgänge. Selbst in in den eigenen Akten verschleierten die Stasi-Offiziere die Aufnahme der RAF-Müden. Bis zum Fall der Mauer schrieben sie in ihren eigenen Akten zu Susanne Albrecht und den anderen: "von den BRD-Organen zur Fahndung ausgeschrieben, gegenwärtiger Aufenthaltsort ist nicht bekannt".

Akten zerrissen

Dass die Akten zu Albrecht doch noch bekannt wurden, ist den stürmischen Zeiten im Herbst 1989 geschuldet. Vom Zusammenbruch der DDR vollkommen überrascht, gelang es den Stasi-Mitarbeitern nicht, die heiklen Unterlagen vollständig zu vernichten. Auch weil die Kapazitäten zur Aktenvernichtung nicht ausreichten. Deshalb zerrissen die zuständigen Mitarbeiter die Unterlagen und lagerten sie im Keller des riesigen Gebäudekomplexes an der Normannenstraße in Papiersäcken. Anschließend sollten die Säcke verbrannt werden. Doch die Bürgerbewegung kam ihnen Mitte Januar 1990 mit der Erstürmung der Stasi-Zentrale zuvor. Die vorvernichteten Akten wurden sichergestellt - Jahre später fing die Stasi-Akten-Behörde an, die Schnipsel wieder zusammenzusetzen, mittlerweile mit Hilfe eines Computerprogramms.

Ende Juni 1977 wechselt Susanne Albrecht in den Untergrund. Zuvor war sie eine sogenannte Legale, die überwiegend Botendienste für die im Untergrund abgetauchten RAF-Mitglieder übernahm. Und sie zögert noch, sich an der Entführung des Bankiers Jürgen Ponto zu beteiligen, mit der nach dem Mord an den Generalbundesanwalt Siegfried Buback vom 7. April der Druck auf die Behörden zur Freilassung der in Stammheim Inhaftierten erhöht werden soll.

Doch Susanne Albrecht wird als "Türöffnerin" gebraucht, denn Ponto ist ein guter Bekannter ihres Vaters und Patenonkel ihrer Schwester. Vor die Wahl gestellt, an der Entführung teilzunehmen oder die Gruppe zu verlassen, macht Albrecht mit. Als der Dresdner-Bank-Chef Ponto am 30. Juli 1977 die Tür seiner gut gesicherten Villa in Oberursel bei Frankfurt öffnet, stürmt nicht nur eine mit einem Rosenstrauß ausstaffierte Bürgerstochter ins Haus. Unter den Kidnappern sind auch die RAF-Mitglieder Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Ponto wehrt sich. Er wird von Mohnhaupt und Klar erschossen.

Acht "Fehler"

Drei Jahre später, beim Anfertigen der neuen Legende, ist davon natürlich nicht die Rede, auch nicht vom Höhepunkt des Deutschen Herbstes, der mit der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, der Entführung des Urlauberjets "Landshut" und der Selbsttötung der Gefangenen in Stuttgart-Stammheim endet. Susanne Albrecht, auf dem Weg zur DDR-Bürgerin Ingrid Jäger, legt fest, sie habe sich in der Zeit nach 1975 mit der antiautoritärer Pädagogik beschäftigt, sie sei immer wieder bei Protesten und Aktionen gegen die Beteiligung der Bundesrepublik am Vietnamkrieg dabei gewesen. Die Zustände in der Bundesrepublik werden ihr zunehmend zuwider. "Ich wollte erst mal Abstand zu der BRD. Ich beschloss, ein Jahr in England zu verbringen, um die Sprache zu lernen und über alles aus der Entfernung gründlich nachzudenken [] Aus dem Annoncenteil einer Zeitung suchte ich mir eine Familie in London raus, die jemand suchte, der sich um Haushalt und Kind kümmert. Ich bewarb mich dort und wurde genommen." Zeitpunkt: Februar 1977.

Als sie im Februar 1978, so die Legende, nach Frankfurt zurückfährt, "sah ich für mich eine Perspektive darin, Bewegungen der 3. Welt zu unterstützen". Sie diskutiert mit Freunden, gibt Nachhilfestunden, putzt bis Juli 1980 in einem Arzthaushalt. "Ich begriff die internationalistische und antiimperialistische Haltung der DDR und sah, dass sie, wie Kuba in Lateinamerika, wie Angola in Afrika, in Europa an vorderster Front steht."

Wieweit sich Ingrid Jäger ihre Legende selbst zurechtlegt, muss offen bleiben, es geht aus den Stasi-Unterlagen nicht hervor. Handschriftlich vermerkt die werdende DDR-Bürgerin Jäger: "Ich überlegte mir, dass ich in der DDR, die der ständigen politisch-ideologischen und militärischen Konfrontation des US- und BRD-Imperialismus ausgesetzt war, auch etwas zum Kampf gegen die BRD und zum sozialistischen Aufbau beitragen kann." Mitte August, so will es der neue Lebenslauf, fährt Albrecht/Jäger nach Frankreich, verbringt zwei Wochen in Paris und steigt dann in ein Flugzeug nach Berlin.

Das Kollektiv ist gespalten

Die "Offensive 77" endet für die RAF in einer Katastrophe. Die "Konfrontation" mit dem Staat geht verloren, die Stammheimer Gefangenen sind tot, und die entführte "Landshut" ist unter zum Jubel der Bevölkerung von der GSG 9 erfolgreich gestürmt und die Geiseln sind befreit worden. Zahlreiche RAF-Mitglieder sind gefasst worden.

Das Kollektiv der RAF ist gespalten. Über acht der Illegalen heißt es in der Gruppe, ihr Weg in den Untergrund sei ein "Fehler" gewesen. Sie gelten als wenig belastbar oder nicht zuverlässig genug, um weiterzumachen. Die Fehler, das sind neben Susanne Albrecht Monika Helbing und Silke Maier Witt, die an der Entführung und Ermordung Schleyers beteiligt gewesen sein sollen. Wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung sind auch Christine Dümlein, Ralf Friedrich, Werner Lotze, Ekkard Seckendorff-Gudent und Sigrid Sternebeck international zur Fahndung ausgeschrieben.

Die acht sind vom Leben in der Illegalität desillusioniert. Die verbliebenen Aktivisten wollen in der Bundesrepublik eine neue Offensive starten. Mit Anschlägen auf Nato-Militäreinrichtungen will die RAF ihren Einfluss auf die linksradikalen Bewegungen in Westdeutschland wieder stärken. Vorher aber muss eine Lösung für die "Fehler" gefunden werden.

Wohin also mit den "Fehlern"? Den Kontakt zur Staatssicherheit der DDR hat Inge Viett als Mitglied der "Bewegung 2. Juni" 1975 unfreiwillig bei einem Grenzübertritt nach Berlin hergestellt: Ihre gefälschten Papiere fliegen auf. Nach einem zweistündigen Gespräch mit "Harry", einem Oberst des MfS, hat sie den Eindruck, "dass wir in Zukunft relativ sicher die Grenzen zur DDR passieren könnten".

Zwei Jahre später werden nun die Kontakte zum MfS reaktiviert. Inge Viett reist nach Ostberlin, um dort die Möglichkeit einer Hilfestellung für die Aussteigewilligen zu eruieren. Die DDR soll helfen, sie in einem afrikanischen Land unterzubringen. Zu ihrer Überraschung heißt dann aber das Angebot, "die demobilisierten Kämpfer zu uns zu bringen".

Wenig später werden die acht in der DDR eingebürgert: an verschiedenen Orten und unter der stetigen Aufsicht des MfS. Zwei weitere RAF-Müde wählen in den folgenden 24 Monaten den gleichen Weg. Unabdingbare Voraussetzung: Sie alle müssen ihre Legende lernen - so wie Susanne Albrecht, aus der am 1. September 1980 Ingrid Jäger und dann nach der Heirat mit einem Physiker in November 1983 in Vetschau auch noch Ingrid Becker wird.

Mit der Wende geht auch der Schutz für die RAF-Aussteiger zu Ende. Ein Stasi-Offizier läuft über, gibt den westdeutschen Behörden den entscheidenden Tip, dass bei den Einbürgerungsverfahren stets eine Geburtsstadt im Ausland angegeben wurde, um Nachforschungen am Geburtsort auszuschließen. Das aber kann Susanne Albrecht nicht wissen, als sie für ihren neuen Lebenslauf schreibt: "Ich, Ingrid Jäger, wurde am 10. 4. 1951 als erstes Kind meiner Mutter Ruth und meines Vaters Ernst Jäger in Madrid geboren."

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