Gewerkschaften: Ver.di wird Linksmarke

Auf ihrem Bundeskongress nächste Woche in Leipzig müssen die ver.di-Delegierten über 1.000 Anträge abarbeiten. Die drängendste Frage ist: Wie kann der Mitgliederschwund gestoppt werden?

Die Großgewerkschaft bekommt zunehmend Konkurrenz von Berufs- und Standesverbänden. Bild: dpa

Der Antrag A1 beleuchtet das Problem: "Die in Ver.di organisierten Dienstleistungsbranchen sind durch ein äußerst hohes Maß an Heterogenität gekennzeichnet. [] Entsprechend unterschiedlich - teilweise gegensätzlich - ist die Lage der in diesen Branchen abhängig Beschäftigten." Die Gewerkschaft müsse sich daher mehr "auf die betriebliche Arbeit" ausrichten.

Die Forderung ist eine von 1.300 Anträgen, über die auf dem am Sonntag beginnenden Ver.di-Bundeskongress beraten wird. Das Problem der Vielfalt auf dem Dienstleistungssektor treibt die Gewerkschaft inzwischen in einer Weise um, wie die GründerInnen es nicht erahnen konnten, als die Arbeitnehmervertretung vor sechs Jahren aus mehreren Einzelgewerkschaften entstand.

Am Sonntag beginnt der siebentägige 2. Bundeskongress der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di in Leipzig. Motto: "Gerechtigkeit, Würde, Solidarität". Rund 1.000 ehrenamtliche Ver.di-Delegierte aus allen Regionen beraten über 1.300 Anträge, die von verschiedenen Gewerkschaftsgremien vorgelegt wurden. Die Anträge fordern den Kampf gegen die Arbeitsbedingungen bei Discountern, einen kritischen Umgang mit der Bertelsmannstiftung und die Abschaffung der 1-Euro-Jobs, weil diese reguläre Stellen gefährden. Die Wiederwahl des Ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske gilt als sicher. Als Redner sind Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) und Experten zum Thema Mindestlohn und Hedgefonds eingeladen. Der Bundeskongress tagt alle vier Jahre.

2,8 Millionen Mitglieder zählte Ver.di im Gründungsjahr 2001 und stieg damit zur größten Einzelgewerkschaft der Welt auf. Ver.di kommt derzeit noch auf 2,23 Millionen Mitglieder, man rechne 2007 mit einem Rückgang um 3 Prozent gegenüber dem Vorjahr, sagt eine Sprecherin der Ver.di-Bundeszentrale in Berlin. In den Jahren zwischen 2001 und 2006 waren die Mitgliederverluste bei Ver.di größer als im Durchschnitt der anderen Arbeitnehmervertretungen im Deutschen Gewerkschaftsbund, schreibt der Konstanzer Sozialpolitiker Berndt Keller in den jüngsten gewerkschaftlichen WSI-Mitteilungen.

Keller glaubt, dass sich "die zunehmende Größe einer Gewerkschaft [] nicht unbedingt in größerer Stärke beziehungsweise externer Durchsetzungsfähigkeit" umsetze. 1.000 Berufsgruppen, vom Lehrer am Abendgymnasium über Krankenschwestern, Verkäuferinnen und Müllwerker bis hin zum Zooangestellten, gehören zu Ver.di. Die Hälfte der Mitglieder sind Frauen. Ärzte, Piloten und Lokführer aber führen inzwischen über ihre Berufsverbände lieber eigene Tarifverhandlungen, als sich mit den mageren Lohnerhöhungen zufriedenzugeben, die Krankenschwestern, Bodenpersonal oder Gleisarbeiter hinnehmen müssen.

Keller spricht von einer "Renaissance" der Berufs- und Standesverbände. Die Pilotenvereinigung Cockpit kündigte zuerst die Verhandlungsgemeinschaft mit Ver.di in den Tarifverhandlungen auf, dann folgte UFO, die Organisation Unabhängiger Flugbegleiter, der prominenteste Fall war die Ärztevereinigung Marburger Bund. Deren Mitgliederzahlen schossen in die Höhe, als sie eigene hohe Tarifforderungen stellten. Hätte eine Supergewerkschaft wie Ver.di bis zu 30 Prozent Lohnerhöhung für Millionen von Beschäftigte gefordert, wie damals die Ärzte und seit einigen Wochen auch die Lokführer, wäre sie sofort der gesellschaftlichen Verantwortungslosigkeit bezichtigt worden.

Die Berufsgewerkschaften von Cockpit und Marburger Bund verfügen zusammen über rund 120.000 Mitglieder - das ist aber immer noch wenig im Vergleich zu den 2,2 Millionen Ver.di-Mitgliedern.

Josef Falbisoner, Landesbezirksleiter von Ver.di in Bayern, erklärt den Mitgliederschwund daher vor allem aus "der Privatisierung und dem Arbeitsplatzabbau" in den ehemals öffentlichen Diensten. Viele ältere Ver.di-Mitglieder wechselten in den Ruhestand. Und der Abbau von Ausbildungsplätzen in den Post- und Telefondiensten führe dazu, dass weniger Jüngere nachkämen.

In den Callcentern, die im Umfeld der Telekom entstanden, seien nach wie vor viele Beschäftigte bei Ver.di organisiert, schildert Falbisoner. In jenen neuen Callcentern "auf der grünen Wiese", in denen TelefonverkäuferInnen potenzielle Kunden anrufen, sei der gewerkschaftliche Organisationsgrad hingegen "stark verbesserungsbedürftig". Der Kampf gegen Privatisierungen etwa in Krankenhäusern und für eine faire Entlohnung der längeren Arbeitszeiten im Einzelhandel bringe der Gewerkschaft aber auch neue Mitglieder ein, erklärt der bayerische Bezirkschef.

Die These vom Nachlassen der Attraktivität der Gewerkschaft für junge Leute ist wohl zu einfach, um allein damit den Mitgliederschwund zu erklären. Denn immerhin ist es Ver.di gelungen, sich als Marke für linke Ziele zu positionieren: Die Dienstleistungsgewerkschaft gab den maßgeblichen Anstoß zur Mindestlohndebatte, startete Kampagnen für faire Arbeitsbedingungen wie beim Lidl-Discounter und verjüngte ihr Image durch die Zusammenarbeit mit den Globalisierungskritikern von Attac.

Vielleicht hat der Mitgliederschwund einen ganz anderen, banaleren Grund: 1 Prozent vom Bruttolohn kostet der Ver.di-Mitgliedsbeitrag. Wer aber in prekären Jobs 1.500 Euro im Monat verdient, der will nicht unbedingt allmonatlich 15 Euro für eine Mitgliedschaft berappen, deren persönlicher Nutzwert für ihn oder sie nicht direkt spürbar ist. Für 15 Euro gibt es schließlich schon eine Flatrate für Handy und Internet. Man kann die politischen Positionen von Ver.di ganz klasse finden und sich an den Tariferhöhungen erfreuen, ohne deswegen einen Mitgliedsausweis beantragen zu wollen.

Im Zeitalter der Schnäppchenmentalität regt sich daher Unmut bei den zahlenden Ver.di-Mitgliedern. Der Antrag 136 der Landesbezirkskonferenz Rheinland-Pfalz fordert, künftig nur noch Ver.dianern unter Angabe der Mitgliedsnummer Zugang zu den Internetseiten von Ver.di zu gestatten, auf denen über Lohntabellen und Tarifverträge informiert wird. Doch das ist der Gewerkschaftsführung dann doch zu heikel: Die Antragskommission empfiehlt, den Vorschlag nur als "Arbeitsmaterial" an den Ver.di-Vorstand weiterzuleiten.

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