Tschechow-Verfilmung: Worte aus dem Off

Angela Schanelec hat aus Tschechows Stück "Die Möwe" einen Gegenwartsfilm gemacht. Einen "Nachmittag" mit Szenen einer beschädigten Bürgerlichkeit.

Ein Film als Schwebezustand, ohne Leichtigkeit und dennoch beglückend: Miriam Horwitz als Agnes. Bild: reinhold vorschneider

Der Blick geht ins Offene. Oder jedenfalls ins Publikum. Oder, da ein Publikum im strengeren Sinne nicht da ist, hinaus, von der Hinterbühne eines Theaters, auf die Stuhlreihen und über die Stuhlreihen hinaus zu den Fenstern, durch die das Licht des Tages fällt. Auf der Bühne, im Mittelgrund dieser Totalen, mit der Angela Schanelecs wundersam bezaubernder Film "Nachmittag" beginnt, steht die Schauspielerin Irene (gespielt von Angela Schanelec selbst) und spielt nicht. Sie probt nicht einmal, nicht richtig jedenfalls, obwohl die Szene, die man sieht, sich während der Proben zuträgt. Irene probiert eher nur: herumzustehen, dem Hund sich zu nähern, der auf der Bühne liegt. Sie nimmt eine Tasche, die eine Mitarbeiterin ihr bringt. "Sie ist schwer", sagt sie.

Diese Szene, eine statische Einstellung, die einige wenige Minuten währt, eröffnet diesen Film. Der aber kommt aufs Theater, auf diesen Raum, diesen Vorraum, in dem man sich beinahe schon einrichten möchte mit seinem Blick, mit seinem Interesse, nicht mehr zurück. Oder jedenfalls nicht buchstäblich, denn später, am Nachmittag am See irgendwann, wird eine andere Figur, Agnes (Miriam Horwitz), erzählen, sie habe das Theater besucht und Irene gesehen, die in einer Szene spielte mit einem Hund und diese Szene sei ihr vorgekommen, als spiele Irene darin gar nicht, als sei sie nicht in der Illusion eines Stücks befangen, sondern einfach sie selbst. Ob das die Utopie einer gelingenden Lebensform ist - oder, ganz im Gegenteil, eine Form des sozialen Autismus, ist schwer zu entscheiden. Denn als in sich selbst Befangene wandeln und bewegen sich die Figuren durch Angela Schanelecs Film, der zeigt, wie eine familiäre Gemeinschaft zerfallen ist und zerfällt.

Am Nachmittag am See in Potsdam spielt, von Ausflügen nach Berlin unterbrochen, der Rest des Films. Es gibt weniger eine Handlung als eine Konstellation, die in Umrissen und in Details, aber nicht in allen Zusammenhängen sichtbar wird. Es gibt darum auch weniger eine Entwicklung als eine Abfolge von Zuständen. Keine Veränderungen, nur Gelegenheiten, aufeinander loszugehen, sich in sich und gegen die Außenwelt zu kehren und genutzte oder vertane Chancen, aus Bindungen sich loszureißen. Im einen Haus am See leben Alex (Fritz Schediwy), ein alter Mann, und Konstantin (Jirka Zett), ein junger Mann mit schriftstellerischen Ambitionen. Irene, Konstantins Mutter und Alex jüngere Schwester, kommt zu Besuch, später ist auch ihr aktueller Liebhaber, der Schriftsteller Max (Mark Waschke), dabei. Es sind Semesterferien, darum ist auch Agnes da, die früher im Haus nebenan wohnte, jetzt in der Stadt studiert. Sie hat mit Konstantin eine Beziehung - oder hatte. Herauszufinden, was nun: hat oder hatte, deshalb ist sie wohl hauptsächlich da.

Aber schon zu behaupten, es gebe ein präzise bestimmbares Verhältnis zwischen Wollen und Tun, klar zu bezeichnende Intentionen und Gründe, ist falsch. Alle sind hier viel eher auf der Suche, und das noch ist falsch, hieße es anzunehmen, sie hätten dabei eine klare Vorstellung vom Gegenstand dieser Suche. In "Nachmittag" ist vielmehr alles in der Schwebe. Ein Film als Schwebezustand, aber ohne Leichtigkeit. Denn es ist schwer, die Schwebe auszuhalten, das Nichtwissen, das Ringen mit sich selbst, aber auch das Ringen um ein Sein-in-der-Welt. Es ist eben wirklich eine Nachmittags-Schwebe: Träge ist man, in einem Zwischenraum, ein Warten auf etwas, das womöglich nie eintritt. Zugleich aber ist alles überscharf, licht und hell. Der Blick geht ins Offene.

"Nachmittag" ist Angela Schanelecs erste Literaturadaption, eine Transposition von Anton Tschechows Stück "Die Möwe" in deutsche Gegenwartsseelenzustände. Weil aber Schanelec eine so eigensinnige Autorin ist, ändert sich mit der Verlagerung an den Potsdamer See am Nachmittag, nach Berlin in die Nacht, fast alles. Schanelec hat sich die Vorlage radikal angeeignet, und das heißt in ihrem Fall: kein Dialog ist geblieben, sie hat auch die zwei Jahre, die in der "Möwe" vergehen, auf wenige Nachmittage verdichtet. Wiedererkennbar sind wohl die Figurenkonstellation, die Schwermut, auch die Bösartigkeit, mit der der eine dem anderen etwas zufügt beinahe nur um des Zufügens willen. Die Ernsthaftigkeit des Ringens dagegen, von Agnes vor allem, um einen Sinn, darum, sich selbst erkennbar zu werden in Wollen und Tun, diese verbissene und alles andere als wegwerfende Verlorenheit mitten im Leben, erinnert doch eher an Angela Schanelecs bisherige Filme als an Tschechowsche Lebensmüdigkeiten.

Konsequent entwickelt Schanelec ihre Ästhetik der Auslassung, des Elliptischen weiter. Sie erzählt niemals so, dass ein Ereignis unmittelbar aus einem anderen folgt, dass eine Tat sich schlüssig aus dem, was man bisher sah, erklärt. Neu ist in "Nachmittag" der Wille zur Nähe, eine Lust an der Großaufnahme. Immer wieder sieht man Agnes Gesicht im Profil, wie sie spricht, minutenlang verharrt die Kamera. Überhaupt scheint es immer wieder, als könne und wolle sich die Kamera nicht losreißen von den Gesichtern, spät schwenkt sie von den längst Schweigenden zu denen, die nun sprechen. Es ist eine ambivalente Geste, denn sie zeugt von großer Zuneigung zur Person, ihrer Gestalt, ihrem Körper, ihrem Schweigen und Sprechen einerseits - und setzt sie den Angriffen aus dem Off umso stärker aus. Es ist, als wolle der Film seine Figuren schützen - und könne es nicht. Gerade die Intimität, die sich einstellt, macht die Verletzungen, die sie einander zufügen, umso schmerzlicher.

Gegen die Konvention, die Kamera auf das zu richten, was "wichtig" ist, auf die Sprechenden und Agierenden, verstoßen Angela Schanelec und ihr Kameramann Reinhold Vorschneider immerzu. Worte aus dem Off, Blicke ins Off: Was man sieht, was im Bild ist, ist in "Nachmittag" längst nicht alles. Ungesagtes steht mächtig neben Gesagtem, das nicht Gezeigte neben dem Gezeigten. Was man sieht, sind quälende Zerfallsprozesse und Zerfallsprodukte des Sozialen; Schanelec erklärt dabei nichts, sie kittet auch nichts durch Humor. "Ich interessiere mich nicht mehr für Menschen", sagt Alex, als Irene ihn fragt, was er von ihrem neuen Freund Max halte. Und gleich darauf: "Und du wirst mir auch langsam egal." Die Worte, die gesprochen werden, werden zu spitzen Waffen und sie fügen sich kaum einmal zu wirklichen Dialogen. Was gesagt wird, verliert sich oft in den Zwischenräumen und Auslassungen, geht ins Leere oder löst sich erst gar nicht von dem, der sie spricht.

"Nachmittag" zeigt Szenen aus beschädigten Leben. Das Milieu ist - mitunter bis zur Karikatur - bürgerlich, und man kann sich gelegentlich bei der ungeduldigen Frage erwischen, ob man die Probleme, die die Figuren haben, wirklich haben muss. Es sollte einen diese Ungeduld aber nicht daran hindern, die Unbeirrbarkeit der Filmemacherin Angela Schanelec zu bewundern, die ihren sehr eigenständigen filmischen Blick auf die Welt von Film zu Film vervollkommnet. Man wird dann auch kaum übersehen können, dass ihre Filme das Milieu und seine Beschränkungen transzendieren. Erstaunlicherweise ist "Nachmittag" nämlich kein düsterer, sondern ein immer wieder beinahe schönheitstrunkener Film. Das hat mit den Bildkompositionen zu tun, der Staffelung der Innenräume ins Gegenlicht, der Liebe zur Körperlichkeit der Personen. In dieser Schönheit ist "Nachmittag" dann auch ein Film, der schlicht und einfach beglückt.

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