50 Jahre Atomunfall in Windscale: Atomlügen haben Tradition

Vor 50 Jahren gab es in der englischen Atomanlage Windscale den zweitgrößten Atomunfall der Geschichte. Laut einer Studie wurde doppelt so viel Radioaktivität frei wie bislang behauptet.

Es bleibt dabei: Jedes AKW ist brandgefährlich. Bild: ap

"Oje, jetzt sitzen wir ganz schön in der Patsche." Das waren die Worte des Technikers Arthur Wilson, als er am 10. Oktober 1957 das Feuer in der nordwestenglischen Atomanlage Windscale entdeckte. Ausgebrochen war es bereits zwei Tage zuvor. Es war der Auftakt zu dem bis heute zweitschlimmsten Atomunfall der Geschichte. Seine genauen Folgen kennt man bis heute nicht. Allerdings zeigt eine neue Studie von John Garland von der britischen Atomaufsichtsbehörde und Richard Wakeford von der Universität Manchester, dass damals doppelt so viel Radioaktivität frei wurde, wie Regierung und Betreiber jahrelang behauptet hatten.

Die beiden Reaktoren in Windscale waren in Windeseile gebaut worden, weil man das Plutonium für das britische Atomwaffenprogramm benötigte. Die Konstrukteure hatten aber die immense Hitze, die sich von Zeit zu Zeit in dem Graphitmantel um den Reaktorkern bildete, nicht einkalkuliert. Wie sollte man das Feuer bekämpfen? Die Luftzufuhr abzudrehen, um ihm den Sauerstoff zu nehmen, war zu gefährlich, weil der Reaktorkern sich womöglich noch stärker erhitzt hätte. So rückte man dem Feuer mit Wasser zu Leibe. Heute vor 50 Jahren war es schließlich doch gelöscht.

Die Regierung spielte die Sache herunter, weil sie ihr Waffenprogramm nicht gefährden wollte: Sie ließ verlauten, die Filter hätten die Radioaktivität in den Schornsteinen aufgefangen.

Doch in den folgenden Tagen stiegen die Werte an radioaktivem Jod-131 in der Milch von Kühen aus der Umgebung stark an. Daraufhin wurde sie in einer mehr als 300 Quadratkilometer großen Zone um das Atomkraftwerk sechs Wochen lang aus dem Verkehr gezogen. Die radioaktive Verseuchung war aber nicht auf diese Sperrzone beschränkt: Im Süden Englands, an der irischen Ostküste und sogar auf dem europäischen Festland wurden erhöhte Werte gemessen.

Darüber hinaus war in dem Feuer auch eine Tonne mit dem ebenfalls radioaktiven Polonium-210 verbrannt - das gleiche Polonium-Isotop, mit dem der russische Dissident Alexander Litwinenko im vergangenen Jahr vergiftet wurde. Die Regierung war gezwungen, eine Untersuchung einzuleiten, hielt aber die unangenehmen Teile des Berichts bis 1988 geheim.

Wie viele Menschen durch den Unfall langfristig zu Tode gekommen sind, ist bis heute nicht geklärt. Waren es nur zehn, wie optimistische Wissenschaftler vermuten? Oder hundert oder gar tausend, wie der Epidemiologe John Urquhart glaubt, der als Einziger die Auswirkungen des Poloniums in Betracht zog?

Die Untersuchung von Garland und Wakeford kommt nicht nur zu dem Ergebnis, dass der radioaktive Ausstoß höher war. Auch die Zahl der Opfer soll um mindestens 240 über den bisherigen Schätzungen liegen. In Dundalk an der irischen Ostküste gegenüber von Windscale stiegen die Krebsrate und die Zahl der Geburtsschäden um zwölf Prozent über den landesweiten Durchschnitt.

Windscale ist auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik gebaut worden. Der erste Reaktor, Calder Hall, lieferte ab 1956 Strom. Durch den Unfall wurde der Name Windscale zum Synonym für die Schrecken der Atomkraft, sodass die Betreiberfirma die Anlage 1981 in Sellafield umtaufte. Doch auch der neue Name war schnell ruiniert, denn die Skandale rissen nicht ab: Lecks und weitere Brände, die Einleitung von radioaktivem Müll in die Irische See, verschwundenes Plutonium, das für sieben Atomraketen ausgereicht hätte, die heimliche Entnahme von Organen toter Sellafield-Arbeiter zu Untersuchungszwecken - die Liste ist lang.

Der Unfallreaktor steht seit damals unangetastet auf dem Gelände. Nun überlegt die Regierung, die beschädigten Brennstäbe zu entfernen. Das würde rund 722 Millionen Euro kosten.

Wegen des Klimawandels ist die Atomkraft bei der Labour-Regierung wieder salonfähig geworden. In den kommenden zehn Jahren sollen zehn neue Atomkraftwerke gebaut werden. Die Konsultationsphase dazu endete gestern, bis Ende des Jahres soll die Entscheidung fallen.

Der damalige Unfall sei kein Argument, meint die Atomlobby. "Es ist töricht, den Unfall als Grund anzuführen, keine neuen und besseren Atomkraftwerke zu bauen", sagte Paul Howarth vom Atominstitut in Dalton.

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