24 stunden spreebogen, folge 24 (und schluss)
: Von 23 bis 24 Uhr

Diese Nacht hatte schon eine Winterstille, wie wenn bald Schnee fällt. Und man konnte sich, während man ganz zum Schluss dieser seltsam patriotischen Spaziergänge alles zum letzten Mal abpatrouillierte – die Spreeufer, das schlangenförmige Wohnhaus für die Abgeordneten, den Hauptbahnhof, das Kanzleramt, das Paul-Löbe-Haus, den Reichstag –, noch einmal sein ganz eigenes Regierungsviertel erfinden. Ein Regierungsviertel, bei dem, anders als im Fernsehen, die Bilder nie recht zusammenpassen wollen. Indifferenz ist das Kennzeichen der Großstädte. Verschiedene Geschichten laufen völlig unabhängig voneinander nebeneinander ab. Dafür, dass das am Berliner Spreebogen in Wirklichkeit nicht anders ist, lieferte diese letzte Stunde schöne Beispiele.

Ich sah: vier Männer und eine Frau, die mit Aktentaschen völlig aufgekratzt aus dem Reichstag kamen und albern kichernd wie Schüler auf einem Ausflug an der Straße herumstanden, während sie nach einem Taxi schauten. Ich sah: eine Frau, die auf dem Bahnhofsvorplatz hektisch nach etwas suchte – vielleicht war ihr ein Hund entlaufen. Ich sah: Lichter in dem Abgeordneten-Wohnhaus ausgehen, wohl weil die Bewohner gerade zu Bett gingen.

Und zur Krönung dieser Stunde sah ich (und registrierte dabei ein tiefes Einverständnis in mir): einen Mann, der mit einem Rucksack auf dem Rücken auf der anderen Spreeseite entlangwanderte und dabei selbstvergessen immer wieder von vorn das Lied „Stille Nacht“ sang. Er hatte eine inbrünstige, wohltönende Stimme, und als er über die Fußgängerbrücke in Richtung Hauptbahnhof ging und bei dem Vers „einsam wacht …“ einen Moment lang über den funkelnden Lichtreflexionen auf der Spree stand, wirkte das alles fast zu sehr wie eine Erscheinung. Dann rollte ein schwerer Lastwagen an der Straße vorbei, und der Zauber der Szene war schlagartig verflogen.

Ganz großartig ist es, nach solchen wunderlichen Momenten auf das Kanzleramt zu gucken. Wenn es voll beleuchtet in die Nacht heraus strahlt, kann dies Gebäude auf seiner der Spree zugewandten Seite etwas Exotisches annehmen – mit seinen verschwenderischen Formen festlich prunkend wie der Palast einer fremden Kultur. Und auf der dem Reichstag zugewandten Seite scheint das Kanzleramt manchmal geradezu zu grinsen.

DIRK KNIPPHALS

Wöchentlich ging der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. Nun sind 24 Stunden umschritten. Damit endet diese Reihe.