Berlinale Vorschau: Büffelpelz und Schamhaare

Die 58. Berlinale zeigt Konflikte der Gegenwart: Schwule und Lesben im Islam, Kindersoldaten, Jugendkriminalität. Zum Lachen und Staunen gibt es aber auch etwas.

Die Spannung vor dem Filmfestival ist in jedem Jahr die gleiche: Zuschauer am Berlinale Palast 2007. Bild: dpa

Vor wenigen Tagen lud der Presseagent der Twentieth Century Fox zur Vorführung einer Komödie ein. In der Betreffzeile seiner E-Mail stand: "Damit Sie vor der Berlinale was zu lachen haben". Während des Festivals, schwang darin mit, werde es wohl wenig zu lachen geben, und damit hat der Mann vermutlich Recht. Denn wer in den nächsten Tagen am Potsdamer Platz ins Kino geht, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen Film treffen, der von einer sozialen oder politischen Krise handelt. Die Berlinale, die am Donnerstag Abend mit Martin Scorseses Konzertfilm "Shine a Light" eröffnet wird, hat Schwerpunkte gewählt, die viel daran setzen, die Problem- und Konfliktlagen der Gegenwart zu kartografieren.

So befasst sich der Wettbewerbsfilm "Standard Operating Procedure" von Erol Morris mit dem Krieg gegen den Terror im Allgemeinen und mit Abu Ghraib im Besonderen. Ein anderer, "Tropa de elite" von José Padilha, erzählt von der Arbeit einer Sonderpolizeieinheit in den Favelas von Rio de Janeiro und war in Brasilien umstritten - ihm wurde vorgehalten, die Gewalt der Polizisten zu verharmlosen. Ein dritter Wettbewerbsbeitrag, "Feuerherz" von Luigi Falorni, bringt die kontrovers diskutierte Autobiografie von Senait Mehari auf die Leinwand. Es ist die Geschichte einer Sängerin aus Eritrea - den Lesern dieser Zeitung dürfte sie wohlbekannt sein, da sie 2003 im Namen der taz bei der deutschen Vorauswahl zum Grand Prix antrat. Mehari behauptet von sich, in den Achtzigerjahren von der eritreischen Befreiungsbewegung ELF als Kindersoldatin zwangsrekrutiert worden zu sein. Von einstigen, im Buch beschriebenen Mitgliedern der ELF allerdings wird dieser Vorwurf so vehement bestritten, dass sich mittlerweile Gerichte um den Fall kümmern. Man darf gespannt sein, wie viel Fortune Falorni hat, wenn er eine so aufgeladene Geschichte ins Format des Erzählkinos überträgt.

Das aktuelle Reizthema Jugendkriminalität kommt in vielen Filmen quer durch die Sektionen vor. Dabei geht es mal um Gangs und deren tödliche Rivalitäten in einem Viertel Manilas wie in dem Forumsbeitrag "Tribu" von dem philippinischen Regisseur Jim Libiran. Mal stehen Drogengeschäfte in einer Hamburger Satellitenstadt im Vordergrund wie in dem Panorama-Film "Chiko" von Özgur Yildirim. Der Titelheld, ein junger Deutschtürke, steigt ins Drogenbusiness ein und beweist dabei viel Schlagkraft und viel Geschick - bis ihm ein double bind aus Freundschaft und Hierarchie das Leben zur Hölle macht. Am anderen Ende der Republik, im friedlichen Schwarzwald, kommt ein 25 Jahre alter Bundeswehrsoldat vom Afghanistan-Einsatz zurück. Brigitte Berteles Regiedebüt "Nacht vor Augen" (Forum) konfrontiert ihn mit einer verständnislos-ignoranten Umwelt, die viel lieber business as usual inszeniert, anstatt dem Veteranen ein offenes Ohr zu schenken. Daran und an den eigenen, peinigenden Erinnerungen geht der junge Mann fast zugrunde.

Das Festival zeigt auch im siebten Jahr seit Kosslicks Amtsantritt großes Interesse an den Verwerfungen der globalisierten Welt. Darin unterscheidet es sich kaum von der vorangegangenen Berlinale - die gab dem Publikum die Chance, brutale Frauenmorde in der mexikanischen Grenzstadt Juarez zu bezeugen oder israelischen Soldaten dabei zuzuschauen, wie sie sich in einer längst verloren gegebenen Stellung im Libanon verheizen lassen.

Dass dabei das, was ein Filmfestival, zumal eines vom Rang der Berlinale, auszeichnet, zu kurz kam, war das Fazit der meisten Beobachter. Zu viele wichtige Themen, zu wenig wichtige Filme, zu viel Kino der guten Absicht, zu wenig gut gemachtes Kino. Zu viel Wirbel rund um Events, zu wenig Konzentration auf das Wesentliche. Und, nicht zuletzt, ein seltsamer Ausverkauf des Wettbewerbs. Solange nur Sharon Stone über den roten Teppich defilierte, war man sich nicht zu schade, Belanglosigkeiten wie "When A Man Falls in the Forest" von Ryan Eslinger zu präsentieren, einen Film, an den sich schon eine Woche nach der Berlinale niemand mehr erinnern wollte.

Dass es in diesem Jahr ein bisschen anders und damit besser werden könnte, deuten leichte Verlagerungen im Programm an. Plötzlich laufen im Wettbewerb Filme von Regisseuren, die vor einem Jahr noch im Panorama oder im Forum Platz gefunden hätten - etwa "Bam Gua Nat" ("Nacht und Tag") von dem koreanischen Filmemacher Hong Sang-soo. Mit Fernando Eimbcke ist ein junger mexikanischer Regisseur in den Wettbewerb eingeladen, dessen Debüt "Temporada de Patos" ("Entensaison") vor vier Jahren cinephile Herzen höher schlagen ließ, und mit Erick Zonca ist ein viel versprechender französischer Regisseur vertreten, der seit "La vie revée des anges" (1998) und "Le petit voleur" (1999) pausiert hat und nun "Julia" präsentiert, mit einer, wie es auf den Fluren der Berlinale-Büros heißt, großartigen Tilda Swinton in der Hauptrolle. Johnnie To wiederum steht für jenes avancierte, raffinierte, schnelle Kino aus Hongkong, das Cinephile wie Action-Aficionados gleichermaßen beglückt. Und mit "Ballast", dem Debüt Lance Hammers, wird ein Stück unabhängiges US-amerikanisches Kinos präsentiert, mit Laiendarstellern gedreht, angesiedelt in einer kargen, desolaten Landschaft im Bundesstaat Mississippi. Wenn diese leichten Verschiebungen bedeuten, dass der nicht eben für seine Cinephilie berühmte Dieter Kosslick dem Rat seines Auswahlgremiums in diesem Jahr mehr Aufmerksamkeit gezollt hat als im letzten, dann ist das ein gutes Zeichen für diese 58. Berlinale.

Zumal viele der Schwerpunktsetzungen - zumindest zum Auftakt des Festivals - den Eindruck erwecken, gut kuratiert zu sein. Das gibt Anlass zur Hoffnung, Filme zu sehen, die unser Bild von der Welt herausfordern und verändern, Filme, die das Vertraute auf der anderen Seite des Globus entdecken und das Unvertraute vor der Haustür, Filme, die es schaffen, dieses Unvertraute ein wenig zu erhellen, anstatt es zu exotisieren oder zu skandalisieren. In verschiedenen, im Zwischenbereich von Essay und Dokumentation angesiedelten Forumsfilmen etwa wird man die Gelegenheit haben zu sehen, wie in verschiedenen Ländern Ostasiens politische Transformationsprozesse erinnert respektive vergessen werden - ein Sujet, das deutschen Zuschauern geläufig sein dürfte. "Yasukuni" von Li Ying zum Beispiel handelt von einem Schrein in Tokio, in dem aller japanischen Soldaten gedacht wird, mithin auch der Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs. Der Essayfilm "Invisible City" von Tan Pin Pin versucht in der sich mit rasender Geschwindigkeit verändernden Metropole Singapur daran zu erinnern, wie die Stadt einmal war - er will etwas festhalten, was heute nicht mehr existiert.

Traditionell ist die Berlinale dem Queer Cinema gegenüber aufgeschlossen; in diesem Jahr bietet sie in diesem Zusammenhang einen interessanten Schwerpunkt: Wie leben Homosexuelle in islamisch geprägten Ländern? "Be Like Others" von Tanaz Eshagian zum Beispiel erzählt vom Iran, wo Homosexualität zu einem Todesurteil führen kann, Transsexualität wiederum legal ist. Wer sich als schwuler Mann zur Frau umoperieren lässt, versöhnt sein Leben mit der Gesetzeslage. Ob er sich auch mit sich selbst versöhnt, ist eine der Fragen, die "Be Like Others" aufwirft. Zugleich haben die Programmverantwortlichen dafür gesorgt, dass sich niemand in seiner westlichen Liberalität zu sicher fühlen kann.

Die Dichotomie "Wir sind aufgeklärt, die sind rückständig" wird spätestens dann brüchig, wenn "Improvvisamente l'inverso scorso" ("Plötzlich im letzten Winter") von Gustav Hofer und Luca Ragazzi von Homophobie in Italien handelt. Gibt es bei all dem trotzdem etwas zu lachen? O ja: In ihren acht mit "Green Porno" überschriebenen Kurzfilmen spielt Isabella Rossellini Insekten, die Sex haben, und macht dabei vor allem als Spinnenmännchen eine wunderbare, tragisch-komische Figur. Im Forumsbeitrag "My Winnipeg", der Hommage Guy Maddins an seine Heimatstadt, kann man ein der Ästhetik des Stummfilms verpflichtetes Delirium erleben. Die Mutterobsession des Helden, eine Flussgabelung, Büffelpelz und Schamhaare finden in wilden Überblendungen zusammen. In einer Sequenz wird eine aberwitzige urbane Legende zum Besten gegeben: Pferde preschen aus einem brennenden Stall, stürzen sich in ihrer Panik in den winterkalten Assiniboine River und erfrieren. Ihre von der Todesangst entstellten Köpfe ragen aus der Eisschicht heraus, die Kamera schaut aus nächster Nähe in weit aufgerissene, schockgefrostete Pferdeaugen und vor Schmerz verzerrte Mäuler. Weil der Winter in Winnipeg lang ist, gewöhnen sich die Bewohner allmählich an die Pferdeköpfe. Sie promenieren an ihnen entlang, nutzen sie als Treffpunkt für verstohlene Rendezvous und verwenden sie schließlich als Tische für ihre winterlichen Picknicks.

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