US-Polizeiserie "The Wire": Baltimore Blues

Auch Obama schaut sie: Die Polizei-Serie "The Wire" erzählt von der Krise amerikanischer Institutionen - komplex, kunstvoll, massenwirksam.

Schwuler Racheengel Omar Little: Figur aus der US-Serie "The Wire". Bild: ap

Neulich erwähnte Barack Obama in einem Interview, seine Lieblingsfernsehserie sei "The Wire". Das mag auf der einen Seite eine der vielen Banalitäten sein, die im Laufe der amerikanischen Präsidentschaftsvorwahlen an die Öffentlichkeit gelangen. Andererseits lassen sich gerade in diesem affektiv extrem aufgeladenen Wahlkampf durchaus Rückschlüsse auf die Kandidaten aus der popkulturellen Neigung ziehen (für Hillary Clinton etwa hat Céline Dion den Kampagnensong gesungen). Nur: was sich früher aus einem Blick ins Plattenregal ableitete, erschließt sich heute viel besser über die Vorlieben für Fernsehserien. Und mit seiner Auswahl beweist Obama nicht nur ein feines Gespür für den niveauvollen Distinktionsgewinn. Das Fernseh-Epos über die sozialen, politischen und ökonomischen Verflechtungen in Baltimore handelt genau von jener allgegenwärtigen Krise der Institutionen, die eine Veränderung seiner Kampagne nach so unausweichlich macht.

Ausgehend vom gescheiterten "Krieg gegen Drogen" entfaltet sich in "The Wire" ein schonungslos marodes Bild der amerikanischen Stadt im Spätkapitalismus. Spätestens nach einer halben Staffel erscheint nicht nur jede andere Polizeiserie blass und wie am Fließband produziert. Befreit von Werbeblöcken und dem Diktat der Quote hat die Show aus der Kreativschmiede des Pay-TV-Senders HBO die Möglichkeiten des Formats neu ausgelotet.

Die "Sopranos" und "Six Feet Under" zerlegten und vermischten die Stereotypen des Mobster- und Familiendramas noch innerhalb geschlossener Episoden. "The Wire" dagegen lässt das serielle Schema von einem Fall pro Folge plus Cliffhanger ohne Rücksicht auf Gelegenheitsglotzer hinter sich. Seit sechs Jahren knüpfen die Macher um Ex-Polizeireporter David Simon einen rhizomatisch wuchernden Teppich aus gut drei dutzend Hauptfiguren und mehreren so kunstvoll wie kompliziert verschachtelten Erzählsträngen. Der ausufernde und doch straff gespannte Handlungsbogen ist als mehrteiliger, visueller Roman mit im Schnitt zwölf Kapiteln pro Staffel angelegt. Mit der aktuellen fünften Saison kommt "The Wire" im US-Fernsehen gerade planmäßig zum Abschluss. In Deutschland entschädigen DVDs und P2P-Netzwerke vorzüglich für die Kurzsichtigkeit hiesiger Programmplaner. Wobei es keine Serie in der Geschichte des Fernsehens geben dürfte, die sich so sehr gegen eine Synchronisierung sträubt wie "The Wire" - mit enormer Genauigkeit werden hier die Sprachen verschiedener Milieus nachgestellt. Wenn schon außerhalb der Stadtgrenzen von Baltimore niemand einen Kleindealer "Hopper" nennt, wie will man das dann noch akkurat übersetzen?

In den USA ist die Serie besonders bei zwei Gruppen beliebt: bei den Trüffelschweinen der Unterhaltungskritik und bei afroamerikanischen Zuschauern, denen sie jenseits von Opferrollen eine öffentliche Sichtbarkeit verleiht. Chicago Tribune, Salon oder San Francisco Chronicle feiern "The Wire" als beste Show im Fernsehen. Dealer informieren sich hier wöchentlich über die neuen Fahndungsmethoden. Der Serientitel bezeichnet die Abhörtechnik, auf der die Ermittlungen einer Polizei-Einheit zur Drogenbekämpfung aufbauen. Eine andere Bedeutung ist die des Telegramms und der Nachrichtenagentur - tatsächlich kommuniziert die Serie auch genau dieses Gefühl: Hier werden Nachrichten aus den Straßenecken und Hinterzimmer der Stadt gesendet. Mit "Heaven & Here" hat die Reihe einen der intelligentesten serienbegleitenden Blogs hervorgebracht, permanent produziert sie neue Lesarten und Anschlüsse.

Die vielschichtige und sozialkritische Erzählweise wird oft mit Charles Dickens Gesellschaftsromanen verglichen. Doch im Gegensatz zum Chronisten der Viktorianischen Zeit hält "Wire"-Schöpfer David Simon keine humanistische Heilsbotschaft für die Ehrenhaften bereit. In Interviews betont er, dass vielmehr die griechische Tragödie als Modell für das postfordistische Sittengemälde gedient hätte. Anstelle der launischen Götter vom Olymp herrschten nun Institutionen über die Schicksale der verlorenen Seelen. Systematisch nimmt jede Staffel ein anderes Milieu zum Ausgangspunkt.

Es beginnt mit der Spiegelung der machtbesessenen und menschenverachtenden Hackordnung in der Polizeibehörde und im Drogenclan der Barksdales. Dabei verbringt der Zuschauer ebenso viel Zeit mit den Strafverfolgern wie mit den Straftätern. Schnell fühlt man sich in der familiären Nestwärme wohler als im zynischen Revieralltag. Von den klaustrophobischen Straßen öffnet sich in der zweiten Staffel der Blick in die Weite des Hafens von Baltimore. Dort erhält der örtliche Drogenhandel dann seine globale Dimension. Verzweifelte Hafenarbeiter lassen sich schmieren, um die Gewerkschaftskasse zu füllen und den Niedergang der materiellen Arbeit abzufangen.

Die dritte Staffel verfolgt die Verbindungen der Inner City zur politischen und wirtschaftlichen Elite. Zum Schluss geht es um die Ursachen für das Versagen der Institutionen. So gerät eine Gruppe von Schuljungen durch das marode Bildungssystem in kriminelle Bahnen. Und anhand der neoliberal-prekären Verhältnisse in einer Tageszeitung geht die Serie schließlich der Frage auf den Grund, warum die zum Himmel schreienden Missstände so wenig Aufmerksamkeit erhalten. Am Ende jeder Staffel werden die sich ständig überlagernden Systeme in einer Montage zu einem düsteren Panorama der ungelösten Probleme verwoben.

Die authentischen Züge dieser Serienwelt stammen aus erster Hand. David Simon hat viele Jahre als Reporter der Baltimore Sun gearbeitet, sein Partner Ed Burns war Mordkommissar in West Baltimore. Die Riten der Ordnungshüter haben die beiden weißen Autoren ebenso präzise recherchiert wie den schwarzen Code der Straße. Außerdem besetzten die Macher Gastrollen mit lokalen Talenten, Wu-Tang-Clan-Mitglied Method Man, dem früheren Bürgermeister von Baltimore und einem echten ehemaligen Drogenboss, den Ed Burns 1984 nach einer Abhöraktion festnahm. Die Figuren werden dabei weder zu bloßen Platzhaltern innerhalb der strukturell bestimmten Gefüge herabgesetzt, noch stehen sie für die Freiheit des individuellen Willens, für einen Mythos, dem Hollywood so oft erliegt.

Da ist der heroinsüchtige Polizei-Informant Bubbles, dessen Freundschaft zur lesbischen Detektivin Shakima Greggs einen der moralischen Angelpunkte der Serie bildet. Der Junkie wird hier vom passiven Opfer zum ambivalentem Subjekt mit all dem Selbsthass und kleinen Überlebenstricks, die eine ganze Person hinter der Folie entstehen lassen. Derweil leidet der getriebene Polizist und Schwerenöter Jimmy McNulty gerade daran, dass er abseits seiner Arbeit kein richtiges Leben hat. Für alles zahlt man in "The Wire" seinen Preis: Wenn zum Beispiel der frustrierte Polizeileiter Colvin inoffiziell eine Zone mit dem Spitznamen "Hamsterdam" einrichtet, in der der Crackhandel geduldet wird, ist das nur kurz erfolgreich. Denn bald gerät dieses Experiment zur Befriedung der Nachbarschaft außer Kontrolle.

An der Spitze der ausgefuchst operierenden Barksdale-Organisation herrscht der charismatische Pate Avon Barksdale mit viel Soul, Straßenweisheit und Killerinstinkt. Ihm zur Seite steht Stringer Bell: ein Gangster auf dem dritten Bildungsweg, der an seinen BWL-Ambitionen zugrunde geht. Überhaupt scheint der Tod in "The Wire" die einzige Form der Erlösung zu sein. In keiner anderen Serie sterben so viele liebgewonnene Figuren. Wer nicht mehr im "game" mitspielen will, muss abtreten.

Das "game" steht dabei nicht nur für den Drogenhandel, sondern repräsentiert das gesamte Netz der institutionellen Zwänge, in die sich auch der idealistische Politiker Tommy Carcetti bei seinem Aufstieg zum weißen Bürgermeister in einer schwarzen Stadt verstrickt.

Den extremen Nihilismus der Straße verkörpert der aufstrebende Player Marlo Stanfield in Reinform. Als das konsequente Produkt seiner macchiavellistischen Umwelt greift er ruchlos nach der Macht. Flankiert wird der Prinz der Dunkelheit von dem schaurigen Killerduo Snoop und Chris. Ihr unverständlicher Slang und ihre schockierende Mitleidslosigkeit deuten auf den Zusammenbruch einer gemeinsamen Kultur hin, wie er in Baltimore durch Armut, Drogenabhängigkeit, Suburbanisierung und Korruption offensichtlich wird. Nur der schwule Racheengel Omar Little könnte das tödliche Trio aufhalten. Doch von einer lebensbejahenden Botschaft ist auch dieser Robin Hood der Straße weit entfernt.

In Simons Studie über dysfunktionale Institutionen in der Ära von George W. Bush bleibt alles dem Gesetz der Entropie überlassen. Die Kräfte des entfesselten Kapitalismus haben die Milieus zersetzt, ohne ihren Schutz ist ein Menschenleben immer weniger wert. Sei es nun als statistische Variable in der Verbrechensrate oder als potenzielles Geschäftsrisiko, das präventiv mundtot gemacht wird. So gibt Avon Barksdale seinem nichts ahnenden Partner Stringer Bell noch ein lakonisches "Just business" mit auf den Weg, bevor er ihn fallen lässt.

Je mehr sich dabei die Logik der Profite und die Willkür die Funktionssysteme durchsetzen, desto bestürzender wirken die Schicksale der Figuren. Da vergießt man auch mal eine Träne für einen üblen Gangster. Nicht zuletzt ist die Glaubwürdigkeit und emphatische Qualität des gesamten Ensembles auf den hohen Anteil an schwarzen Charakteren zurückzuführen. Seit Jazz, Blaxploitation und der globalen Verbreitung von Hiphop repräsentieren Afroamerikaner wie keine andere Gruppe Authentizität und Style im kollektiven Bildergedächtnis. Auch Obama zapft die Anziehungskraft afroamerikanischer Kulturen an, wenn er in seinen Reden scheinbar mühelos performative Power mit einer Botschaft der Befreiung verschränkt. Dabei stellt er seine "blackness" nicht heraus, sondern überschreitet ethnische Kategorien. Auf ähnlich universalisierende Weise trifft "The Wire" mitten ins Mark und alarmiert das Bewusstsein - nur ohne einen Schimmer Hoffnung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.