„Woher kommt die Wut?“

Für „Meine Mütter“ ist Rosa von Praunheim nach Riga gereist und hat nach den Spuren seiner leiblichen wie seiner 2003 verstorbenen Adoptivmutter gesucht. Ein Gespräch mit dem Regisseur

Rosa von Praunheim, geboren am 25. November 1942 in Riga, wächst bei Adoptiveltern in Ost-Berlin unter dem Namen Holger Bernhard Bruno Mischwitzky auf. 1953 flieht die Familie in den Westen. Von Praunheim studiert Freie Malerei an der Offenbacher Werkkunstschule, wechselt nach einem Jahr an die Hochschule für Bildende Künste in Berlin. Beide Studiengänge beendet er ohne Abschluss. Im Jahr 1967 dreht er sein Debüt, den Kurzfilm „Von Rosa von Praunheim“. Sein Langfilmdebüt, die mit Laiendarstellern und mit Mini-Budget gedrehte Beziehungsgeschichte „Die Bettwurst“, avanciert zu einem Kultfilm; der Dokumentarfilm „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ (beide von 1970) wird zu einem Ereignis, vielen Schwulen zeigt er den Weg aus der versteckten Existenz. Seither ist von Praunheim als Aktivist und als Filmemacher unermüdlich – zuletzt mit der Dokumentation „Tote Schwule – Lebende Lesben“.

INTERVIEW DIETMAR KAMMERER

taz: Herr von Praunheim, hier auf den Tisch steht ein Schachcomputer, mit einer angefangenen Partie. Ihre Adoptivmutter Gertrud ist 2003 während einer Schachpartie gestorben.

Rosa von Praunheim: Wir haben beide Schach gespielt. Ich hatte den Computer gekauft, und sie saß oft an dem Gerät. Ich spiele auch dran, verliere aber immer.

Weil Sie zu wenig Zeit zum Üben haben?

Nein, weil ich zu hektisch bin. Ich spiele zu schnell. Und ich habe vergessen, wie man die niedrige Stufe einstellt.

Vor acht Jahren hat Gertrud Ihnen gebeichtet, dass Sie nicht ihr Kind sind, sondern dass sie Sie während der deutschen Besatzung in Riga in einem Kinderheim gefunden hat. Was war Ihr erster Gedanke nach dieser Offenbarung?

Ich fand es exotisch, witzig und besonders. So, wie man sich als Kind oft wünscht, eine Prinzessin zu sein.

Im Film heißt es: „Was wäre aus mir geworden, wenn sie mich nicht aufgenommen hätte?“ Haben Sie den Gedanken weitergesponnen?

Ich habe mir oft vorgestellt, unter Stalin Soldat geworden zu sein. Das wäre das Beste gewesen, was mir unter diesen Umständen hätte passieren können. Aber die deutschen Kinder sind am Ende des Krieges alle ausgelagert worden. Als deutsches Kind – was bei den Recherchen zuerst ja gar nicht klar war, meine Eltern hätten auch Letten sein können – wäre ich irgendwo im Reich in ein Heim gekommen.

Wie viel haben Sie vor den Recherchen über lettische Geschichte gewusst?

Wenig. Der Osten hat mich nie so interessiert. Ich fand den dunkel und repressiv. Ich hatte das Vorurteil, dass die alle immer nur saufen und Schwulenhasser sind, was viele ja immer noch sind. Insofern war es schon mit Angst besetzt, dorthin zu fahren.

Gab es je die Option, die Suche nach den biologischen Eltern abzubrechen? Kam der Gedanke: Nein, lieber nicht – wer weiß, was dabei über mich herauskommt?

Ich bin Journalist und Dokumentarfilmer. Dadurch, dass ich ständig Recherchen unternehme, war das nur eines von vielen Projekten. Am Anfang war die Aussicht, dass wir irgend etwas erfahren, verschwindend gering, weil wir nicht den richtigen Namen wussten. Meine Geburtsurkunde war angeblich verschwunden. Insofern waren wir verloren, wir hätten nur die Geschichte meiner Adoptiveltern recherchieren können. Dass wir dann das entscheidende Dokument gefunden haben, mit meinem richtigen Namen darauf, war wie ein Wunder.

Wie ist es, einen Film sozusagen darüber zu machen, dass man nicht weiß, wer man ist?

Ich hab ja sehr viel autobiografische Filme gemacht, insofern habe ich mich immer mit mir selber beschäftigt. Nicht nur aus Eitelkeit, sondern weil ich finde, dass das Persönliche sehr wichtig ist für die Kreativität: sich selbst zu beobachten, seine eigene Geschichte ernst zu nehmen.

Als sich herausstellt, dass Sie in einem Rigaer Gefängnis zur Welt gekommen sind, kommentieren Sie: „Das erklärt vielleicht einiges.“ War das als Scherz gemeint oder im Ernst gesprochen?

Ich habe mich oft gefragt, wie ich als Schwuler, der in einer Zeit aufgewachsen ist, als Homosexualität kriminalisiert wurde, so eine Wut entwickeln konnte. Woher kommt das eigentlich? Andere passen sich an, sind diplomatisch, versuchen auf vielleicht vernünftigere Weise, ihr Ziel zu erreichen. Warum mache ich das als Einzelkämpfer, über Provokationen? Das habe ich vielleicht von meiner – bitte in Anführungszeichen! – „verrücken“ Mutter, die wohl auch den Mund nicht schließen konnte und durch ihre Unbequemheit in den Knast gekommen ist.

Nach alldem, was Sie über die Umstände Ihrer Herkunft erfahren haben: Ist es der Zufall oder das Schicksal, was unser Leben bestimmt?

Ich denke, wir sind Produkte unserer Umgebung. Das sehe ich sehr stark so beim lettischen Volk, wo man nicht in Schwarz-Weiß-Kategorien richten kann. Es gab so viele Differenzierungen, so viele unterschiedliche Gruppen, die auf unterschiedlichen Seiten gekämpft haben. Und die am Arsch waren, die alle Opfer waren. Es gab da niemanden, der gut sein konnte. Da haben wir oft eine Arroganz in Deutschland, zu sagen, der ist „gut“ und der ist „böse“. Es kommt immer auf die Menschen an. Wo du aufwächst, in welche Zufälle du hineingerätst, in welche Umgebung, das prägt dich. Wenn ich in den Nazizeit groß geworden wäre, wäre ich ein anderer geworden, auch in Russland oder in der DDR. Das wären alles andere Leben gewesen.

Gegen Ende des Films deuten sich einige düstere Möglichkeiten über Ihren biologischen Vater an. Wären Sie trotzdem noch an Hinweisen interessiert?

Wenn sich etwas ergibt, natürlich. Schweigen ist gleich Tod. Das ist ja das Motto der Aids-Bewegung. Man muss reden, man muss seiner Vergangenheit in die Augen sehen. Möglicherweise die Gene eines Massenmörders zu haben, ist nicht gerade ein angenehmer Gedanke, aber es ist ja nichts bewiesen.

Ihren Adoptivvater sehen wir auf seinem Hochzeitsfoto in Naziuniform.

Ich bin in Frankfurt-Praunheim in eine Schule gegangen, in der sehr intensiv über den Holocaust geredet wurde. Da kam ich schon sehr in Konflikt mit meinem Adoptivvater, der in anderen Zeiten groß geworden ist und der das verinnerlicht hat. Aber es gibt immer einen Unterschied zwischen Ideologie und Menschlichkeit. Als Mensch war mein Vater sehr verantwortungsvoll, tolerant, offen. Er war kein Fanatiker.

Wie haben Sie sich als linker, schwuler Aktivist auf dem Treffen der Heimatvertriebenen von Pyritz gefühlt?

Natürlich gab es da auch die reaktionäre Seite, das wurde mir ja in die Kamera gesagt: entweder die Gebiete zurück oder Entschädigung oder was weiß ich. Das hätte unter Umständen im Film einen größeren Raum einnehmen können, aber das war nicht das Thema. Ich war dort, um zum ersten Mal meine Tante und meinen Vetter zu treffen.

„Meine Mütter – Spurensuche in Riga“. Regie: Rosa von Praunheim. Dokumentarfilm, Deutschland 2007, 87 Min.