Lotte in Marrakesch

Wahrscheinlich ist einfach der Analytiker im Urlaub: Barbara Frey inszeniert Botho Strauß’ „Groß und klein“ am Deutschen Theater, Berlin

Der Anfang hat es in sich. Vor der schwarz gähnenden Bühne von Bettina Meyer sitzt eine blonde Frau rittlings auf einem weißen Stapelstuhl und schreit ihren verzweifelten Hohn über die Banalität der Verhältnisse, in denen sie lebt, heraus. Lotte heißt sie, wie Goethes Lotte in Weimar zum Beispiel. Bloß dass sie hier als Pauschalreisende in Marrakesch sitzt. Ihre Reisegruppe macht einen Ausflug, an dem sie nicht teilnehmen wollte. Zu zerstritten schien ihr die Truppe. Aber auch zu unerträglich gewöhnlich. Jeder kennt dieses Unbehagen. Und die parallel dazu aufsteigende Hybris, selbst aus so einer Masse herauszustechen. Und Nina Hoss, die diese Lotte jetzt im Berliner Deutschen Theater spielt, zelebriert das Leiden am Durchschnittlichen, am Glanzlosen des Lebens mit großer Intensität: Ist dabei mal graumäusiges Hascherl, mal Femme fatale, Zynikerin oder verlorene Seele – und doch selbst ganz die Verkörperung des Banalen, an dem sie so leidet.

„Groß und klein“ hat Botho Strauß sein 1978 an der Westberliner Schaubühne von Peter Stein uraufgeführtes Stück genannt, das gut zwei Jahrzehnte lang maßgeblich für den flirrenden, subtil hyperrealen Ton von Strauß’ Theater gewesen ist. In zehn Szenen wird darin ein Gegenwartspanorama zwischen anonymen Wohnsilos und sattem Mittelstand aufgespannt, durch das Lotte wie eine Verlorene irrt. Eine, die nach Substanz sucht, wo es längst keine Substanz mehr gibt.

Unterwegs begegnen ihr schattenhafte Wesen, die den Menschen, die sie einmal gewesen sein könnten, nur noch entfernt ähnlich sehen: ihr Exmann Paul, ein altes Ehepaar, das die Welt nur noch durch den Schleier seiner Erinnerung wahrnimmt, ein Karrierist, eine dicke morphiumsüchtige Sozialhilfeempfängerin. Kurz: jene flüchtigen, sprichwörtlich gewordenen Strauß’schen Paare und Passanten, entfremdete Gestalten, denen die Warenwelten des Westens Individualität und Sinn für Höheres abgekauft haben und mit deren Beschreibung Strauß einst ein Stück Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik schrieb. Wie gut hatte es da der andere Teil Deutschlands, wo sich Autoren wie Heiner Müller lustvoll im Blut der deutschen Geschichte und ihrem totalitären Erbe wälzen konnten, während unsereins im Westen unter der Blutarmut der demokratischen Verhältnisse litt und die Geschichte am Ende wähnte.

Doch das ist lange her und inzwischen haben auch Botho-Strauß-Figuren wieder festen historischen Grund unter den Füßen. Haben sich ihre Bedingungen damit verändert? Barbara Frey, die „Groß und klein“ jetzt im Berliner Deutschen Theater inszeniert hat, ist scheinbar der Meinung, dass sie noch die Gleichen sind. Denn die metaphysischen Mangelerscheinungen sind damit längst nicht verschwunden, an denen Strauß’ Figuren chronisch leiden. Sie lassen sich jetzt nur gesellschaftlich leichter verorten: der coole Gitarrenspieler, der junge Mann an der Bushaltestelle oder die Mietshausbewohner: Frey und ihre Kostümbildnerinnen Gesine Völlm und Wiebke Waskulat haben sie aus dem Katalog der Gegenwart ausgeschnitten. Ob eine wohlhabende Mittelstandsfrau (Friederike Wagner) der vorbeistreifenden Lotte im Schlafzimmerfenster ihre Garderobe vorführt oder die biestige Familie, die auf betonierten Plastikstühlen im imaginierten Garten festsitzt. Ob ein junges Wissenschaftlerpaar die Szene kreuzt oder ein altes Ehepaar sein sinnloses Leben als Diavortrag inszeniert. Überall herrscht ein undefinierter Realismus, der alle Figuren seltsam substanzlos und den Abend insgesamt zunehmend lähmend werden lässt.

Besonders für die Figur der Lotte hat das Konsequenzen, die im Verlauf verstärkt wie eine verhuschte Neurotikerin wirkt. Die Verhältnisse, an denen sie leiden mag, hin und her. Wahrscheinlich ist einfach der Analytiker im Urlaub, denkt man, wenn man sie beispielsweise in einer der berühmtesten Szenen des Stücks durch die Gegensprechanlage eines Hochhauses kommunizieren sieht – eigentlich ein Bild für die Kommunikationsmaschinen unserer Zeit, in denen jede Kommunikation längst verkümmert ist. Auch krankt der Abend daran, dass hier zwar ein vorzügliches Ensemble agiert, die verschiedenen Schauspielstile jedoch selten eine gemeinsame Sprache sprechen. Da ist Christian Grashofs verknarzter Hyperrealismus, Margit Bendokats virtuos die Sätze sezierender Nölton oder Friederike Wagners kapriziöse Nervigkeit. Frank Sepplers geerdeter Zynismus oder die psychologische Vielschichtigkeit der Figuren von Meike Droste und Matthias Bundschuh. Aber jeder spielt für sich allein. ESTHER SLEVOGT