Die Exotin auf dem Schulhof

Sonja Sonnenfeld, ehemalige Tänzerin und Schauspielerin aus Berlin mit jüdischem Vater und brasilianischer Großmutter, stellt sich auch noch mit 95 Jahren vor Schulklassen, um von ihrem Kampf gegen Rassismus und Ausgrenzung zu erzählen

VON ANJA VIOHL

„Gummibärchen vom Tisch, Mütze ab!“ Alle Schüler folgen der Aufforderung ihrer Lehrerin und raunen ihrem schwedischen Gast im Chor einen „Guten Morgen, Frau Sonnenfeld“ zu. Sonja Sonnenfeld lächelt. Diese Geste erinnert sie an alte Zeiten. „Damals mussten wir auch noch einen Knicks machen, wenn die Lehrerin uns aufrief“, erzählt sie den Achtklässlern an der Wilmersdorfer Walter-Rathenau-Schule. Damals bedeutet bei ihr: irgendwann kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als sie in Charlottenburg zur Schule ging. Heute sitzt die 95-Jährige mit dem Rücken zur Tafel und erzählt aus ihrer bewegten Lebensgeschichte.

Eine Hand auf das Pult gestützt, erzählt die zierliche Dame fast druckreife Geschichten von ihrer Kindheit und Jugend im Berlin der 1920er- und -30er Jahre – ohne das Hier und Jetzt und die Schüler vor ihr aus den Augen zu verlieren. Schließlich soll sie heute über ein zeitloses Thema reden: „Mobbing in der Schule gab es auch schon zu meiner Zeit. Nur das Wort gab es noch nicht.“ Auf dem Schulhof stand sie lange alleine herum, denn mit dem fremden, dunkelhäutig aussehenden Mädchen wollte zunächst niemand etwas zu tun haben. Sonjas Großmutter stammte aus Brasilien, ihre Eltern waren 1914 von Schweden nach Berlin gezogen. Erst Jahre später konnte sich die gebürtige Schwedin ihr damals als exotisch empfundenes Äußeres zunutze machen, mit Werbeaufnahmen für Zahnpasta und kleinen Filmauftritten. Ihr erster Auftritt: Statistin in einer Massenszene in Fritz Langs „Metropolis“. „Ich habe hübsch ausgesehen“, sagt sie nüchtern, „gelinde gesagt“. Doch vor allem konnte sie tanzen: Als eine der Ersten lernte sie in Berlin das Steppen.

Mit ihren Engagements half sie ihrer Familie, über die Runden zu kommen. Die lebte in einer kargen Hinterhauswohnung, denn der Vater, der aus einer orthodoxen jüdischen Familie kam, war als Architekt viele Jahre arbeitslos. Nach dem Mord an seinem Bekannten Walter Rathenau betrachtete er mit Sorge den aufkeimenden Rechtsextremismus. Um seine vier Kinder für die Gefahr zu sensibilisieren, gab er ihnen Hitlers „Mein Kampf“ zu lesen. „Alle an den Tisch gesetzt, keine Schulaufgaben mehr, jetzt wird dieses Buch gelesen“, erinnert sich Sonja Sonnenfeld an die Anweisung ihres Vaters, als er die Hetzschrift mit nach Hause brachte. „Schade, dass das Buch dann so schnell verboten wurde, sonst hätten es vielleicht viel mehr Menschen als Warnsignal verstanden.“

Die Familie blieb in Berlin, Sonja hatte in Künstlerkreisen Fuß gefasst. Mit Josephine Baker verband sie eine lebenslange Freundschaft: „My little sister nannte sie mich“, erzählt Sonja Sonnenfeld. „Ich hatte ja noch dunklere Haut als sie.“ Jean Gabin wollte sie mit nach Frankreich nehmen, aber sie folgte dem Rat ihrer Mutter und blieb. „Gegen die vielen talentierten Schauspielerinnen hätte ich mich sowieso nicht durchsetzen können.“

Ab Mitte der 30er-Jahre erlebte sie mit, wie der Antisemitismus auch in Künstlerkreisen um sich griff, wie immer mehr Kollegen Mitglied der NSDAP wurden und wie ihr geliebter Heinz Rühmann seine jüdische Frau verließ. „Hans Albers war aber anständig. Der heiratete seine Frau im selben Jahr, als die Rassengesetze erschienen.“ Hans Albers war es auch, der sie noch engagierte, als sie bereits Berufsverbot hatte. Das erwirkte Sepp Dietrich, der Chef von Hitlers Leibgarde, höchstpersönlich, weil sie sich geweigert hatte, seine Tischdame zu spielen. 1938 wurde die Situation für sie lebensbedrohlich, sie musste Berlin, das sie bis heute als ihre Heimat bezeichnet, verlassen. Bis heute lebt sie in Stockholm. „Goebbels hat den Deutschen gesagt, der Führer denkt für euch. Seid nicht so gleichgültig wie eure Vorfahren, lasst euch das Denken nicht abnehmen!“, mahnt sie jedes Mal, wenn sie vor Schulklassen steht.

Wenn dann noch Zeit ist, erzählt Sonja Sonnenberg von Raoul Wallenberg, der im Auftrag einer US-amerikanischen Organisation in den letzten Kriegsjahren Juden in Ungarn befreite und später in ein sowjetisches Militärlager verschleppt wurde. Als Geschäftsführerin der schwedischen Raoul Wallenberg-Vereinigung initiierte sie seit 1979 zahlreiche Such- und Rettungsversuche für den Diplomaten – ohne Erfolg. Sonja Sonnenfeld aber kämpft weiter gegen Rassismus und Ausgrenzung. So zweifelt niemand, wenn sie zum Schluss sagt: „Bis 100 will ich es noch schaffen.“

Sonja Sonnenfeld: „Es begann in Berlin – Ein Leben für Gerechtigkeit und Freiheit“. Donat, Bremen 2001, 142 Seiten, 12,80 €