Schöne, heile Boxwelt

Sie hat ganz genau hingeschaut und doch nichts gesehen: Regisseurin Nina Pourlak begleitet den Kampf um den Titel des Boxweltmeisters. Um die spannenden Punkte in „Es geht um alles“ herauszuarbeiten, fehlt ihr die Distanz

Er vermöbelt ihn tatsächlich. Der Gegner geht zu Boden. Jetzt muss der Trainer sein Versprechen einlösen und seinem Schützling die Freundschaft anbieten. Arthur Abraham, Berliner aus Armenien, hat seinen Titel, seinen Titel als Boxweltmeister im Mittelgewicht, verteidigt. Ulli Wegner bleibt Weltmeistertrainer. Er wird weiter mit Abraham arbeiten. Sie müssen weiter miteinander auskommen. Wie ihnen das bis dato gelungen ist, ist ab heute im Kino zu sehen. „Es geht um alles“ heißt der Dokumentarfilm von Nina Pourlak, die das ungleiche Gespann begleitet hat.

Sie wollte ganz genau hinschauen. Die Kamera ist fast immer zu nah dran an den Köpfen. Die Filmemacher wollen hineinkriechen in die Schädel, zeigen, was sich hinter den Boxervisagen verbirgt. Viel bringen sie nicht zum Vorschein. Ob wenig da ist, oder ob sie wenig herausbekommen haben – man weiß es nicht. Was ist das für ein Mensch, der mit gebrochenem Kiefer Blut speiend weiterkämpft? Was ist das für ein Trainer, der das Handtuch nicht wirft, obwohl sein Schützling schwer verletzt ist? Die Fragen bleiben unbeantwortet. Vielleicht wäre mehr über die beiden zu erfahren gewesen, wenn sich die Erzähler ein wenig weiter weg begeben hätten von den Protagonisten. Die haben mit der Kamera regelrecht gespielt, sind zu Schauspielern geworden. Ulli Wegner gibt den kauzigen Ossi, den deutschen Disziplinfanatiker. Arthur Abraham, der ein wenig zu oft in die Kamera schielt, spielt den lebenslustigen Armenier, der über die harte Hand des Trainers stöhnt und dennoch weiß, dass er zu tun hat, was der Meister sagt.

Die Dokumentarfilmer werden so zum Teil des Showgeschäfts Profiboxen. Sie lassen sich benutzen von den Darstellern in der Szene der Preisboxer. Wie Abraham angekommen ist, da wo er jetzt steht, davon bekommt man nur eine leichte Ahnung. Zu 50 Prozent sei er Armenier, sagt der Boxer, die anderen 50 Prozent an ihm seien deutsch. In Deutschland wurde er, der als Jugendlicher mit seiner Familie aus Armenien nach Berlin gekommen ist, zum Boxer. Hier lebt er als Profisportler, er wird von einem deutschen Boxstall gemanagt, hat einen deutschen Trainer, lebt davon, dass er viele deutsche Fans hat, die ihn als König Arthur verehren. Bei seinen Kämpfen wird die deutsche Hymne gespielt. Hat er gewonnen, schwenkt er die armenische Fahne. Hat einer wie Abraham überhaupt noch eine Heimat? Derartigen Fragen spürt der Film nicht nach. Er begnügt sich mit den oberflächlichen Antworten, die Abraham gibt, während er in die Kamera grinst. Statt zu ergründen, wie es einem geht, der sich zwischen zwei Kulturen bewegt, wird die Geschichte einer interkulturellen Freundschaft gebaut. Da ist der Armenier mit den lockeren Sprüchen, der auch einmal über die Stränge schlägt und ein paar Brocken Schaschlik zu viel verdrückt. Und da ist das Mecklenburger Urvieh, das es nach der Wende mit eiserner Disziplin zum Weltmeistertrainer gebracht hat. Es ist die Geschichte einer wahrscheinlich gar nicht so untypischen Trainer-Sportler-Beziehung, die als Annäherung der Kulturen verkauft wird. Ein naiver Boxfilm mit schwachem Migrationshintergrund. „Es geht um alles“ will viel und gibt doch nicht mehr als ein paar nette Einblicke in das Geschäft Profiboxens. Eine ganz tolle Welt muss das sein für die Regisseurin und den Kameramann Sebastian Lempe. Putzig, wie sich Abraham vor den Kämpfen mit Krone und Hermelinmantel verkleidet. Eine Qual, so ein Boxtraining. Brutal, wie sich die Faustkämpfer im Ernstfall wirklich prügeln. Und am Ende sind alle so menschlich – der Schinder wie der Schläger. Schöne, heile Boxwelt.

ANDREAS RÜTTENAUER

„Es geht um alles“. Regie: Nina Pourlak, D 2008, 100 Min. www.es-geht-um-alles-der-film.de/kinofinder.php