Debatte Erosion der Mittelschicht: 1.000 Euro gegen den Abstieg

Die Mittelschicht spaltet sich in Vermögende und Besitzlose. Abstiegsbewältigung wird bei einem Teil von ihr zur Kulturtechnik. Die Politik hat darauf noch nicht reagiert.

Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung soll erst in den nächsten Monaten herauskommen, aber die entscheidende Botschaft sickert schon seit Wochen durch: Teile der Mittelschicht verlieren an Wohlstand in Deutschland. Nicht mehr "arm" und "reich" stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die Verwerfungen in den mittleren Einkommenslagen. Ist das nun Grund zur Sorge oder nur Jammern auf hohem Niveau ?

Tatsächlich befinden wir uns in einer Umbruchsituation. Mehr Menschen als noch in den 90er-Jahren sind in diesem Jahrzehnt aus den mittleren Einkommensgruppen nach unten abgerutscht, ergibt sich aus Zahlen des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. "Die Mittelschicht schrumpft", titelten dazu die Medien. Das ist nicht ganz richtig. Die Mittelschicht schwindet nicht. Sie spaltet sich auf in Aufsteiger, Bewahrer und Absteiger. Und das wirft neue Gerechtigkeitsfragen auf.

Die Einkommensstatistiken geben die Differenzierung wieder. Aufstrebende Berufsgewerkschaften erkämpfen für Ärzte, Piloten und Lokführer gute Gehaltsabschlüsse. Aber die Risse zeigen sich auch im Alltag. So bekommen gesetzlich Krankenversicherte gegenüber den Privatversicherten oft erst mit langen Zeitverzögerungen einen Arzttermin.

Firmenpleiten, Scheidungen und unsichere Märkte lassen Biografien brechen. Die geschiedene Akademikerin, die sich mit Werkverträgen über Wasser hält, der 50-jährige Mechanikermeister, der nur noch einen Job in der Leiharbeit findet, und die Soloselbständige, deren Geschäftsidee nicht funktioniert hat - sie alle fühlen sich immer noch als "Mittelschicht".

Doch wo verlaufen die Linien zwischen "oben" und "unten"? Die rein rechnerischen Zuordnungen der Einkommensgruppen und die gefühlten Schichtzugehörigkeiten klaffen jedenfalls auseinander. Im Jahre 2006, dem Jahr der DIW-Berechnungen, lag das statistische mittlere Einkommen bei 1.350 Euro netto im Monat, berechnet für einen Alleinstehenden. Es braucht also gar nicht so viel, um statistisch als "Mitte" in Deutschland durchzugehen.

Die Selbstwahrnehmung aber sieht anders aus. So kursieren zum Begriff "Oberschicht" im öffentlichen Bewusstsein vor allem Fotos von Großindustriellen, die mit Schampus auf Galabällen herumstehen. Wer weiß schon, dass auch das doppelt verdienende Arztehepaar mit zwei Kindern, gutgehender Praxis und monatlich 5.700 Euro Nettoeinkommen zum bestverdienendsten Zehntel gehört?

Zur "Unterschicht" will kaum einer zählen. Der Begriff steht für Langzeitarbeitslose, die sich mit Bierdose vor dem Fernseher lümmeln. Dabei zählt auch die alleinerziehende Akademikerin auf Hartz IV materiell zur unteren Klasse. Und welcher Schicht zugehörig empfinden sich Kleinrentnerinnen, die nachmittags RTL II gucken? Eben.

Die wenig Besitzenden entwickeln Kulturtechniken, um mit dem "downgrading", also materiellen Einbußen, umzugehen. Menschen beziehen sich auf die unmittelbare soziale Umgebung, wenn sie sich als "reich" oder "arm" einschätzen, sagt die Wirtschaftspsychologie.

Man kennt das vor allem so: Menschen kommen zu Geld, ziehen in eine reichere Umgebung, in ein Villenviertel - und werden dort schnell wieder von Abstiegsängsten geplagt. Heute aber erzählt man sich in bürgerlichen Milieus schaudernd Geschichten über Jobverluste oder Firmenpleiten. Das verschiebt die Maßstäbe für Wohlergehen nach unten und hilft, sich weniger arm zu fühlen. Auch die oft beklagte Kaufzurückhaltung der Verbraucher könnte eine Kulturtechnik sein, um durch Bescheidung wieder ein Gefühl der Selbstkontrolle zu bekommen.

Es gibt ein Gut, das ganz hoch steht im Kurs dieser Milieus: Das ist das Gefühl, die eigene Zukunft planen zu können. Die politisch forcierte Währung für dieses Gefühl ist der persönliche Privatbesitz. Auch weil die kollektiven Absicherungen, etwa der gesetzlichen Rente, bröseln. Eigenes Vermögen, ein Haus zu haben oder genug Einkommen zu erhalten, um damit Besitz aufzubauen - das gilt als entscheidende Differenz.

Der Privatbesitz steht dabei kurz vor der Heiligsprechung. Wenig Protest regt sich ob der Pläne zur Reform der Erbschaftsteuer, nach denen Familienmitglieder höhere Freibeträge haben sollen als heute und daher nur in den seltensten Fällen Erbschaftsteuer zahlen müssen.

Auch die Entwicklung des sogenannten "Wohn-Riester" gehört zu dieser Politik. Danach bezuschusst der Staat als Altersvorsorge jetzt auch das Abzahlen einer selbstgenutzten Immobilie, nicht nur eine private Ergänzung des gesetzlichen Ruhegeldes. Der Staat fördert also Häuser, Privatbesitz, der vererbt werden kann.

Der "Ansparstatus" soll das persönliche Sicherheitsgefühl prägen, so will es diese Ideologie. Wer 1.000 Euro im Monat mehr hat, kann bequem Altersvorsorge betreiben und eine Immobilie abzahlen. 1,000 Euro - das kann der Gehaltsunterschied zwischen einer Grundschullehrerin auf Dreivierteldeputat und einem Gymnasialstudiendirektor sein. Beides ist Mittelschicht.

Die Politik muss sich aber der Frage stellen, ob es zukunftsweisend ist, dass alle Sicherheitshoffnungen am Besitz kleben. Eine Gesellschaft, die sich stark auf das Privatvermögen als integrierendes Moment verlässt, kann deswegen ins Schleudern kommen. Das erlebt man derzeit in den USA. Dort zieht die Krise am Eigenheimmarkt schwerwiegende Bankenprobleme nach sich. In England und Spanien geschieht Ähnliches.

Doch in Deutschland setzt die Politik weiter auf die Schonung der Wohlhabenden. Die Steuerentwicklung in den vergangenen Jahren begünstigte die Hochverdiener. Die Steuerbelastung im internationalen Vergleich ist laut einer neuen OECD-Studie hierzulande niedrig.

Die Frage der Verteilung wird daher nicht verstummen. Dabei müssen Politik und Gesellschaft aber zweigleisig verfahren. Der Staat kann Erbschaftsteuern erhöhen, Einkommensteuersätze wieder steigern, die Privilegien der Privatversicherten beschneiden, und mit dem Geld eine gute allgemeine Gesundheitsversorgung erhalten, Pflegerisiken abdecken und Kleinrenten aufstocken.

Die BürgerInnen wiederum müssen sich öffnen für eine Debatte über steuerliche Belastungen von Vermögen und hohen Einkommen oder über Sozialbeiträge für Hochverdiener. Es geht also um Kollektivabgaben, die von oben in die Mittelschicht schneiden.

Die reichen und ärmeren Mittelschichten sind oft nur schicksalhaft hauchdünn voneinander getrennt: Es sind Studienfreunde, Bekannte, Verwandte, die weniger Glück im Job, beim Erben oder durch einen gut verdienenden Partner hatten. Wieder abgeben zu können: dann wäre die Mittelschicht auch ein bisschen solidarisch mit sich selbst. Es ist ein neuer sozialer Auftrag, der aber politisch noch nicht vermittelt wird.

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Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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